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Jenseits des durchgetakteten Lebens - Rezensiert in der SZ von Marlene Knobloch
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Vollständige Rezension anzeigen "Erholung ist keine Freizeit" In ihrem neuen Buch ergründet Jenny Odell , was Zeit ist. Ein Gespräch über Selfies, das ewige Leben und darüber, wie man trotz Instagram wahrhaftige Erfahrungen macht. Die Künstlerin und Autorin Jenny Odell wartet in einem Café in Brooklyn. Odell hat nach dem New York Times-Bestseller "Nichts tun" ihr zweites Buch "Zeit finden - jenseits des durchgetakteten Lebens" veröffentlicht. Ihre Bücher passen optimal in eine dauergestresste Gesellschaft, sind allerdings schlechte Ratgeberbücher. Statt Antworten zu geben, denkt sie in Fragen und Beobachtungen. Draußen regnet es im teilweise gefluteten New York, worüber noch zu sprechen sein wird. SZ: Miss Odell, entschuldigen Sie die Verspätung. Warum haben sich die zehn Minuten im Taxi gerade wie eine Stunde angefühlt? Jenny Odell: Es ist sehr schwer, Zeit zu quantifizieren. Sie ist dehnbar. Selbst, wenn man einer Arbeit nachgeht, die nach festen Uhrzeiten funktioniert. Wenn zum Beispiel eine Strafe fürchtet, weil man zu spät ist, dann gehört alles, was zur Verspätung führt, schon zu einer Zeit, die der Arbeit gehört. Selbst die Nacht davor, wenn man denkt: Ich muss jetzt schlafen, weil ich morgen früh aufstehen muss, damit ich nicht zu spät komme. Die "Arbeitsuhr" tickt noch nicht, trotzdem drücken und ziehen diese Faktoren an unserer Erfahrung von Zeit. Und sie haben nichts mit einer bestimmten Zahl von Stunden zu tun, die man auf der Arbeit verbringt. Als Kind haben Sie einen Kontrollbericht über sich selbst geschrieben, mit Aufgaben wie "gesund essen", "sich gut benehmen", "aufräumen". Schreiben wir uns diese Berichte als Erwachsene nicht noch immer? Die Frage hängt damit zusammen, wie wir uns als Individuen definieren. Mein aktueller Arbeitstitel eines Individuums ist, dass es ein Schnittpunkt von verschiedenen Wegen ist. Diese Wege kommen von außerhalb. Unsere Vorstellungen von Moral etwa oder davon, was es heißt, eine "produktive Person" zu sein. Und jetzt lässt das Internet noch mehr Kontrollkästchen gleichzeitig aufblinken. Was von mir kommt und was nicht, ist eine sehr alte Frage. Aber ja, durch Social Media scheint es ein sehr gegenwärtiges Problem zu sein. Ich habe oft überlegt, ob ich etwas will, weil ich es will, oder weil ich Angst habe. In den Urlaub fahren zum Beispiel. Man kann alle Kästchen abhaken und an all die Orte gehen, aber man tut es aus Angst, dass man nicht das macht, was man machen sollte im Urlaub. Versus: Man wollte als Kind an einen Ort und war aufgeregt. Man hat sich nie gefragt, was man sieht. Man wollte es einfach. In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen "Freizeit" und "Muße". Gibt es "Freizeit" überhaupt? Ja, sie existiert, aber meine Definition orientiert sich eher an der Muße-Theorie des deutschen Philosophen Josef Pieper. Es geht um wahre Freizeit. Erholung ist keine Freizeit. Wobei die meisten, Freizeit so definieren würden. Wahre Freizeit kann nur eine Minute dauern, in der man sich bewusst ist, dass man das kleinste Wesen im Universum ist. Die meiste Zeit des Tages verbringen wir damit, getrieben zu sein, nachzudenken, was wir als nächstes tun. In diesen anderen kurzen Augenblicken steht aber der Rest der Welt im Fokus. Das heißt, man verlässt den hyperindividualistischen Blick auf die Welt? Ja, und die hyperindividualistische Zeitlichkeit. Wenn wir in Kontrollkästchen denken, denken wir über heute oder über diese aktuelle Stunde nach. Man denkt nicht über sein ganzes Leben nach, man denkt nicht über die Geschichte der Stadt, in der man lebt, nach. Dabei ist Freizeit keine Kategorie. Man hat nicht Freizeit und dann hat man keine. Es ist eher wie ein Spektrum mit zwei Polen: Die eine Seite ist individualistisch und zweckgerichtet. Und die andere bescheidener. Ich glaube, die bescheidenen Momente sind die, in denen sich Menschen am lebendigsten fühlen. Also kann man gar nicht richtig kontrollieren, wann man Freizeit hat? Ich kann nicht sagen: Schön, 17 Uhr, Zeit für Muße? Mein erstes Buch "Nichts tun" handelt unter anderem von einem Rosengarten, in dem ich mich viel aufhielt. Nach Erscheinen des Buchs schrieb mir jemand: "Ich sitze seit 15 Minuten im Rosengarten und nichts passiert". Wir können diesen Zustand nicht erzwingen. Aber wir können ihn trainieren. Ich vergleiche das mit Einschlafen. Man kann sich nicht zwingen, einzuschlafen. Aber man kann besser darin werden. Sie schreiben über die "Performance von Freizeit" wie etwa von Reise-Influencern. Haben wir verlernt, wahrhaftig Erfahrungen zu machen? Wenn uns alles als Produkt präsentiert wird, wird uns niemals etwas wirklich ergreifen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen "eine Erfahrung machen" und "eine Erfahrung konsumieren". In meiner Nähe gibt es zum Beispiel einen Berg, den ich sehr liebe. Vor etwa zehn Jahren wurde er plötzlich sehr beliebt. Es war ein Trend, auf den Berg zu steigen und ein Foto zu machen. So viele Menschen bestiegen den Berg, dass er begann, sich abzutragen. Es ist, als hätte Instagram den Berg abgetragen. Aber Konsum kann doch sehr wohl ergreifen. Austern und Champagner kann man wahrhaftig erleben. Ich meinte nicht, dass alles, was man kaufen kann, nicht bedeutungsvoll sein kann. Es geht um den Grund, warum man etwas kauft. Der Grund, warum so viele Angst haben, nicht das Richtige zu tun, hat mit Sterblichkeit zu tun. Unsere Leben enden. Die große unbeantwortete Frage lautet, was das Leben soll, aber auch, was man liebt. Also tut man aus Furcht Dinge, die man vermeintlich tun soll. Ist unser Drang, die Zeit mit Selfies, Videos und Tagebucheinträgen festzuhalten nicht natürlich? Immerhin besteht das Leben ja aus diesen Erfahrungen. Ich schreibe Tagebuch. Ich versuche ständig, Bedeutung im Leben zu finden, aber niemand anderes wird das je lesen. Es gibt ein paar Orte, die mir sehr viel bedeuten. Manchmal gehe ich dorthin und mache ein Selfie, das nie jemand sehen wird. Es ist eine Erinnerung. Diese Fotos und Einträge helfen mir, mit den Jahren meine Beziehung zu diesen Orten zu verstehen. Warum muss ich mich an mich selbst erinnern? Es erinnert mich daran, dass ich unfertig bin. Damit übe ich mich im Mitgefühl mit mir selbst. Das hilft, sich als Ganzes zu sehen. Wenn man in diesem selbst-strafenden Tunnelblick nur das Heute sieht, vergisst man ja nicht nur das Außen. Man sieht sich selbst auch nicht mehr. Dann schaut man auf ein Foto von sich vor zehn Jahren und versteht: Alles verändert sich ständig. Heißt das, man stirbt unfertig? Ich glaube nicht, dass es diesen Moment gibt, kurz bevor man stirbt, in dem man denkt: Ah, das macht alles Sinn. Ich verstehe das Leben eher so, wie ein Satz funktioniert: Man versteht nicht, was die ganzen Worte bedeuten, bis zum Schluss. Aber es hat ja eine Bedeutung. Nur jedes Wort verändert das Ganze, auch die Worte am Anfang. Ich finde es surreal, mir Tagebucheinträge von 2009 durchzulesen und diese merkwürdigen Details zu lesen wie irgendein Typ im Bus, der sehr laut telefoniert hat. Und dann denke ich: Ah, so war das, 2009 am Leben zu sein. In Kalifornien sind alle verrückt danach, möglichst lange zu leben. Aber ist es denn so falsch, wenn man aus der Zeit, die man hat, etwas "rausholen" will? Egal, ob man möglichst intensiv oder möglichst lang leben will - man will etwas vom Leben haben. Ich finde die buddhistische Perspektive darauf sehr hilfreich, die sagt: Man hat so wenig Kontrolle darüber. Im Silicon Valley experimentieren sie gerade mit Blut... Sie sprechen von Experimenten, in denen älteren Mäusen das Blut von jüngeren injiziert wurde. Genau. Hinter all dieser Forschung am langen Leben steckt ein obsessives Verlangen, etwas zu kontrollieren. Es ist ironisch, sie behaupten: Ich habe mir das alles genau angesehen. Ich habe es durchgerechnet, und das ist die logischste Sache, die ich tun muss. Ich glaube aber, die eigentliche Zufriedenheit kommt von dem Glauben, man könne sein Leben kontrollieren. Ich glaube nicht, dass diese Zufriedenheit irgendwas mit der tatsächlichen Verlängerung des Lebens zu tun hat. Sie schreiben von der gegenwärtigen "Produktivitätsperformance". Kennen Sie die als Künstlerin und Dozentin in Stanford auch? Klar, in den USA geht die Zahl der Professuren zurück. Immer mehr Dozierende arbeiten mit Zeitverträgen. Währenddessen hat man normalerweise keine Krankenversicherung, wenn sich zu wenige Studenten für deinen Kurs anmelden, wird er gestrichen. Um als habilitierter Professor angestellt zu werden, muss man sehr beschäftigt wirken. Man muss immer im Kopf von Leuten bleiben. Man muss ständig die anderen an seine eigene Existenz erinnern. Wie auf Instagram. Das Problem ist, dass man nie sagen kann, ob jemand ein Workaholic ist, oder er sagt: Ich muss das eben jetzt leisten. Irgendwann kann man diese Unterscheidung selbst nicht mehr treffen. Dann denkt man: Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich nicht so viel arbeite. Oder man fühlt sich schlecht, wenn man die anderen arbeiten sieht. Aber ist es am Ende nicht auch "individualistisch", Berge anzuschauen oder sich in den Rosengarten zu setzen? Nehmen wir doch zum Beispiel den Streik in Hollywood. Natürlich, wenn man nur wandern geht, nützt das nichts. Aber ich sehe das als Übergang. Das Fantastische am Streik: Man hat eine individuelle Erfahrung von Arbeit, die ja sehr kompetitiv und unsicher ist. Man kann jederzeit gefeuert werden. Man hätte also bei dieser Perspektive und im Wettbewerb bleiben können. Aber dann gab es diesen Moment, in dem die Leute angehalten und sich umgesehen haben. Das versuche ich. Man muss erst anhalten. Und plötzlich sieht man: Das bin ja nicht nur ich. Anderen geht es genauso. Diese Tendenz gibt mir Hoffnung. Das erinnert mich an eine fantastische Frage aus Ihrem Buch: "Brauchen Sie einen Therapeuten oder eine Gewerkschaft?" Ich glaube, wir brauchen beides. Wenn man ein Mensch ist, der seit Langem wandert und dabei Vögel beobachtet, wird der irgendwann feststellen, dass es weniger Vögel gibt. Man kann seiner individuellen Lust folgen, aber systemische Faktoren bemerken. In Oakland habe ich neulich bemerkt, dass an einer Stelle viele Bäume abgestorben sind. Weil ich mich erinnert habe, wie es dort als Kind aussah. Es steckt eben mehr in den Momenten an Orten als: "Aha, und das ist es eben." Sie sprechen in Ihrem Buch von "Klimanihilismus". Passiert das gerade, wenn wir jetzt im gefluteten New York mit den Schultern zucken und sagen: Aha, Klimawandel? Ja, mich frustriert unsere Kurzsichtigkeit. Diese Flut hat etwas mit dem Klimawandel, aber auch mit anderen Gründen wie Infrastruktur zu tun. Ähnlich wie die Waldbrände in Kalifornien, die auch mit schlechter Forstpolitik zu tun haben. Ich wünschte, wir würden die Komplexität aushalten können, ohne sagen zu müssen: Das ist der Klimawandel, das ist nicht der Klimawandel. Wofür wir eine andere Sprache über Zeit brauchen. Genau daran müssen wir arbeiten. Das hat natürlich auch damit zu tun, wie uns Informationen präsentiert werden. In Häppchen. Es geht immer darum, was gerade passiert ist. Das ist gerade passiert. Und das ist gerade passiert - dabei sind einige dieser Dinge eigentlich vor Jahrzehnten passiert. Ja, das ist kompliziert, aber nicht zu kompliziert, um es zu verstehen. Wir brauchen ein größeres Fenster, in dem wir Dinge wahrnehmen. Sie schreiben, Sie suchen eine weniger schmerzhafte Erfahrung von Zeit, eine andere als "Zeit ist Geld", Klimaangst oder die Furcht zu sterben. Haben Sie was gefunden? Ich würde es so sagen: Ich habe gelernt, mit meinem Schmerz besser umzugehen. Es ist einfach eine sehr komische Zeit, am Leben zu sein. Aber wenn man Schmerzen hat, ist ein Weg zu trauern, die Schmerzen auszuhalten und nicht in Panik zu verfallen. Und ja, das hilft.
In ihrem neuen Buch ergründet Jenny Odell , was Zeit ist. Ein Gespräch über Selfies, das ewige Leben und darüber, wie man trotz Instagram wahrhaftige Erfahrungen macht.
Die Künstlerin und Autorin Jenny Odell wartet in einem Café in Brooklyn. Odell hat nach dem New York Times-Bestseller "Nichts tun" ihr zweites Buch "Zeit finden - jenseits des durchgetakteten Lebens" veröffentlicht. Ihre Bücher passen optimal in eine dauergestresste Gesellschaft, sind allerdings schlechte Ratgeberbücher. Statt Antworten zu geben, denkt sie in Fragen und Beobachtungen. Draußen regnet es im teilweise gefluteten New York, worüber noch zu sprechen sein wird.
SZ: Miss Odell, entschuldigen Sie die Verspätung. Warum haben sich die zehn Minuten im Taxi gerade wie eine Stunde angefühlt?
Jenny Odell: Es ist sehr schwer, Zeit zu quantifizieren. Sie ist dehnbar. Selbst, wenn man einer Arbeit nachgeht, die nach festen Uhrzeiten funktioniert. Wenn zum Beispiel eine Strafe fürchtet, weil man zu spät ist, dann gehört alles, was zur Verspätung führt, schon zu einer Zeit, die der Arbeit gehört. Selbst die Nacht davor, wenn man denkt: Ich muss jetzt schlafen, weil ich morgen früh aufstehen muss, damit ich nicht zu spät komme. Die "Arbeitsuhr" tickt noch nicht, trotzdem drücken und ziehen diese Faktoren an unserer Erfahrung von Zeit. Und sie haben nichts mit einer bestimmten Zahl von Stunden zu tun, die man auf der Arbeit verbringt.
Als Kind haben Sie einen Kontrollbericht über sich selbst geschrieben, mit Aufgaben wie "gesund essen", "sich gut benehmen", "aufräumen". Schreiben wir uns diese Berichte als Erwachsene nicht noch immer?
Die Frage hängt damit zusammen, wie wir uns als Individuen definieren. Mein aktueller Arbeitstitel eines Individuums ist, dass es ein Schnittpunkt von verschiedenen Wegen ist. Diese Wege kommen von außerhalb. Unsere Vorstellungen von Moral etwa oder davon, was es heißt, eine "produktive Person" zu sein.
Und jetzt lässt das Internet noch mehr Kontrollkästchen gleichzeitig aufblinken.
Was von mir kommt und was nicht, ist eine sehr alte Frage. Aber ja, durch Social Media scheint es ein sehr gegenwärtiges Problem zu sein. Ich habe oft überlegt, ob ich etwas will, weil ich es will, oder weil ich Angst habe. In den Urlaub fahren zum Beispiel. Man kann alle Kästchen abhaken und an all die Orte gehen, aber man tut es aus Angst, dass man nicht das macht, was man machen sollte im Urlaub. Versus: Man wollte als Kind an einen Ort und war aufgeregt. Man hat sich nie gefragt, was man sieht. Man wollte es einfach.
In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen "Freizeit" und "Muße". Gibt es "Freizeit" überhaupt?
Ja, sie existiert, aber meine Definition orientiert sich eher an der Muße-Theorie des deutschen Philosophen Josef Pieper. Es geht um wahre Freizeit. Erholung ist keine Freizeit. Wobei die meisten, Freizeit so definieren würden. Wahre Freizeit kann nur eine Minute dauern, in der man sich bewusst ist, dass man das kleinste Wesen im Universum ist. Die meiste Zeit des Tages verbringen wir damit, getrieben zu sein, nachzudenken, was wir als nächstes tun. In diesen anderen kurzen Augenblicken steht aber der Rest der Welt im Fokus.
Das heißt, man verlässt den hyperindividualistischen Blick auf die Welt?
Ja, und die hyperindividualistische Zeitlichkeit. Wenn wir in Kontrollkästchen denken, denken wir über heute oder über diese aktuelle Stunde nach. Man denkt nicht über sein ganzes Leben nach, man denkt nicht über die Geschichte der Stadt, in der man lebt, nach. Dabei ist Freizeit keine Kategorie. Man hat nicht Freizeit und dann hat man keine. Es ist eher wie ein Spektrum mit zwei Polen: Die eine Seite ist individualistisch und zweckgerichtet. Und die andere bescheidener. Ich glaube, die bescheidenen Momente sind die, in denen sich Menschen am lebendigsten fühlen.
Also kann man gar nicht richtig kontrollieren, wann man Freizeit hat? Ich kann nicht sagen: Schön, 17 Uhr, Zeit für Muße?
Mein erstes Buch "Nichts tun" handelt unter anderem von einem Rosengarten, in dem ich mich viel aufhielt. Nach Erscheinen des Buchs schrieb mir jemand: "Ich sitze seit 15 Minuten im Rosengarten und nichts passiert". Wir können diesen Zustand nicht erzwingen. Aber wir können ihn trainieren. Ich vergleiche das mit Einschlafen. Man kann sich nicht zwingen, einzuschlafen. Aber man kann besser darin werden.
Sie schreiben über die "Performance von Freizeit" wie etwa von Reise-Influencern. Haben wir verlernt, wahrhaftig Erfahrungen zu machen?
Wenn uns alles als Produkt präsentiert wird, wird uns niemals etwas wirklich ergreifen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen "eine Erfahrung machen" und "eine Erfahrung konsumieren". In meiner Nähe gibt es zum Beispiel einen Berg, den ich sehr liebe. Vor etwa zehn Jahren wurde er plötzlich sehr beliebt. Es war ein Trend, auf den Berg zu steigen und ein Foto zu machen. So viele Menschen bestiegen den Berg, dass er begann, sich abzutragen. Es ist, als hätte Instagram den Berg abgetragen.
Aber Konsum kann doch sehr wohl ergreifen. Austern und Champagner kann man wahrhaftig erleben.
Ich meinte nicht, dass alles, was man kaufen kann, nicht bedeutungsvoll sein kann. Es geht um den Grund, warum man etwas kauft. Der Grund, warum so viele Angst haben, nicht das Richtige zu tun, hat mit Sterblichkeit zu tun. Unsere Leben enden. Die große unbeantwortete Frage lautet, was das Leben soll, aber auch, was man liebt. Also tut man aus Furcht Dinge, die man vermeintlich tun soll.
Ist unser Drang, die Zeit mit Selfies, Videos und Tagebucheinträgen festzuhalten nicht natürlich? Immerhin besteht das Leben ja aus diesen Erfahrungen.
Ich schreibe Tagebuch. Ich versuche ständig, Bedeutung im Leben zu finden, aber niemand anderes wird das je lesen. Es gibt ein paar Orte, die mir sehr viel bedeuten. Manchmal gehe ich dorthin und mache ein Selfie, das nie jemand sehen wird. Es ist eine Erinnerung. Diese Fotos und Einträge helfen mir, mit den Jahren meine Beziehung zu diesen Orten zu verstehen.
Warum muss ich mich an mich selbst erinnern?
Es erinnert mich daran, dass ich unfertig bin. Damit übe ich mich im Mitgefühl mit mir selbst. Das hilft, sich als Ganzes zu sehen. Wenn man in diesem selbst-strafenden Tunnelblick nur das Heute sieht, vergisst man ja nicht nur das Außen. Man sieht sich selbst auch nicht mehr. Dann schaut man auf ein Foto von sich vor zehn Jahren und versteht: Alles verändert sich ständig.
Heißt das, man stirbt unfertig?
Ich glaube nicht, dass es diesen Moment gibt, kurz bevor man stirbt, in dem man denkt: Ah, das macht alles Sinn. Ich verstehe das Leben eher so, wie ein Satz funktioniert: Man versteht nicht, was die ganzen Worte bedeuten, bis zum Schluss. Aber es hat ja eine Bedeutung. Nur jedes Wort verändert das Ganze, auch die Worte am Anfang. Ich finde es surreal, mir Tagebucheinträge von 2009 durchzulesen und diese merkwürdigen Details zu lesen wie irgendein Typ im Bus, der sehr laut telefoniert hat. Und dann denke ich: Ah, so war das, 2009 am Leben zu sein.
In Kalifornien sind alle verrückt danach, möglichst lange zu leben. Aber ist es denn so falsch, wenn man aus der Zeit, die man hat, etwas "rausholen" will?
Egal, ob man möglichst intensiv oder möglichst lang leben will - man will etwas vom Leben haben. Ich finde die buddhistische Perspektive darauf sehr hilfreich, die sagt: Man hat so wenig Kontrolle darüber. Im Silicon Valley experimentieren sie gerade mit Blut...
Sie sprechen von Experimenten, in denen älteren Mäusen das Blut von jüngeren injiziert wurde.
Genau. Hinter all dieser Forschung am langen Leben steckt ein obsessives Verlangen, etwas zu kontrollieren. Es ist ironisch, sie behaupten: Ich habe mir das alles genau angesehen. Ich habe es durchgerechnet, und das ist die logischste Sache, die ich tun muss. Ich glaube aber, die eigentliche Zufriedenheit kommt von dem Glauben, man könne sein Leben kontrollieren. Ich glaube nicht, dass diese Zufriedenheit irgendwas mit der tatsächlichen Verlängerung des Lebens zu tun hat.
Sie schreiben von der gegenwärtigen "Produktivitätsperformance". Kennen Sie die als Künstlerin und Dozentin in Stanford auch?
Klar, in den USA geht die Zahl der Professuren zurück. Immer mehr Dozierende arbeiten mit Zeitverträgen. Währenddessen hat man normalerweise keine Krankenversicherung, wenn sich zu wenige Studenten für deinen Kurs anmelden, wird er gestrichen. Um als habilitierter Professor angestellt zu werden, muss man sehr beschäftigt wirken. Man muss immer im Kopf von Leuten bleiben. Man muss ständig die anderen an seine eigene Existenz erinnern.
Wie auf Instagram.
Das Problem ist, dass man nie sagen kann, ob jemand ein Workaholic ist, oder er sagt: Ich muss das eben jetzt leisten. Irgendwann kann man diese Unterscheidung selbst nicht mehr treffen. Dann denkt man: Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich nicht so viel arbeite. Oder man fühlt sich schlecht, wenn man die anderen arbeiten sieht.
Aber ist es am Ende nicht auch "individualistisch", Berge anzuschauen oder sich in den Rosengarten zu setzen?
Nehmen wir doch zum Beispiel den Streik in Hollywood. Natürlich, wenn man nur wandern geht, nützt das nichts. Aber ich sehe das als Übergang. Das Fantastische am Streik: Man hat eine individuelle Erfahrung von Arbeit, die ja sehr kompetitiv und unsicher ist. Man kann jederzeit gefeuert werden. Man hätte also bei dieser Perspektive und im Wettbewerb bleiben können. Aber dann gab es diesen Moment, in dem die Leute angehalten und sich umgesehen haben. Das versuche ich. Man muss erst anhalten. Und plötzlich sieht man: Das bin ja nicht nur ich. Anderen geht es genauso. Diese Tendenz gibt mir Hoffnung.
Das erinnert mich an eine fantastische Frage aus Ihrem Buch: "Brauchen Sie einen Therapeuten oder eine Gewerkschaft?"
Ich glaube, wir brauchen beides. Wenn man ein Mensch ist, der seit Langem wandert und dabei Vögel beobachtet, wird der irgendwann feststellen, dass es weniger Vögel gibt. Man kann seiner individuellen Lust folgen, aber systemische Faktoren bemerken. In Oakland habe ich neulich bemerkt, dass an einer Stelle viele Bäume abgestorben sind. Weil ich mich erinnert habe, wie es dort als Kind aussah. Es steckt eben mehr in den Momenten an Orten als: "Aha, und das ist es eben."
Sie sprechen in Ihrem Buch von "Klimanihilismus". Passiert das gerade, wenn wir jetzt im gefluteten New York mit den Schultern zucken und sagen: Aha, Klimawandel?
Ja, mich frustriert unsere Kurzsichtigkeit. Diese Flut hat etwas mit dem Klimawandel, aber auch mit anderen Gründen wie Infrastruktur zu tun. Ähnlich wie die Waldbrände in Kalifornien, die auch mit schlechter Forstpolitik zu tun haben. Ich wünschte, wir würden die Komplexität aushalten können, ohne sagen zu müssen: Das ist der Klimawandel, das ist nicht der Klimawandel.
Wofür wir eine andere Sprache über Zeit brauchen.
Genau daran müssen wir arbeiten. Das hat natürlich auch damit zu tun, wie uns Informationen präsentiert werden. In Häppchen. Es geht immer darum, was gerade passiert ist. Das ist gerade passiert. Und das ist gerade passiert - dabei sind einige dieser Dinge eigentlich vor Jahrzehnten passiert. Ja, das ist kompliziert, aber nicht zu kompliziert, um es zu verstehen. Wir brauchen ein größeres Fenster, in dem wir Dinge wahrnehmen.
Sie schreiben, Sie suchen eine weniger schmerzhafte Erfahrung von Zeit, eine andere als "Zeit ist Geld", Klimaangst oder die Furcht zu sterben. Haben Sie was gefunden?
Ich würde es so sagen: Ich habe gelernt, mit meinem Schmerz besser umzugehen. Es ist einfach eine sehr komische Zeit, am Leben zu sein. Aber wenn man Schmerzen hat, ist ein Weg zu trauern, die Schmerzen auszuhalten und nicht in Panik zu verfallen. Und ja, das hilft.
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