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Was Pompeji über uns erzählt | Vom Direktor des weltberühmten Archäologieparks Pompeji - Rezensiert in der SZ von Reinhard Brembeck
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Ein neuer Blick auf Pompeji und die befreiende Kraft der Kultur
Garküchen, ein Sklavenzimmer, griechische Theater, Villen, Thermen und Tempel - die Ausgrabungen in Pompeji offenbaren eine Welt. Doch was hat sie mit uns zu tun? Gabriel Zuchtriegel, der neue Direktor des Weltkulturerbes, legt eindrucksvoll dar, dass verschüttete Altertümer, starre Ruinen und schweigende Bilder uns noch heute verändern können.
Fast täglich kommt Gabriel Zuchtriegel bei seiner Arbeit an der Kreuzung der zwei Hauptachsen Pompejis vorbei, steht da, wo am Morgen des 25. Oktober im Jahr 79 n. Chr. eine ganze Stadt unter Asche und Geröll versank. Wenn Zuchtriegel die Skulptur des im Schlaf überraschten Fischerjungen sieht, muss er an seinen Sohn denken, der sich genauso einrollt, um nicht zu frieren. Dass solche Momente wesentlich sind, um zu vermitteln, was die Antike mit uns zu tun hat, darum geht es in diesem Buch. Gabriel Zuchtriegel bringt uns anhand der archäologischen Entdeckungen vom 19. Jahrhundert bis heute neben Ausgrabungstechniken auch Fragestellungen näher, die mit dem Wandel der Gesellschaft und unserer Gegenwart verknüpft sind. Das alles verbindet er mit seinem Werdegang als Archäologe, der Pompeji nicht nur als Weltkulturerbe erhalten möchte, sondern sich dafür einsetzt, dass alle diesen Ort als den ihren begreifen.
»Ein kluges und auf zurückhaltende Weise persönliches Buch« FAS
»Liebeserklärung an die Archäologie« FAZ
»So lebendig wurde noch nie über Archälogie erzählt« Die Zeit
Gabriel Zuchtriegel ist kein akademischer Archäologe, der still vor sich hin gräbt, sondern einer, der anders denkt als die meisten seiner Kollegen: "Wenn wir als Gesellschaft in Denkmalschutz und Forschung investieren, was können Denkmalschutz und Forschung der Gesellschaft zurückgeben?" Das schreibt er nicht als rhetorische Frage, er lebt es. Seit 2021 leitet Gabriel Zuchtriegel den Archäologischen Park der durch einen Vesuvausbruch zerstörten antiken Stadt Pompeji. Der 42-Jährige gilt als Phänomen, als "Archäologe mit Schlagseite", er ist Sozialarbeiter, Marketing-Genie, Querulant, Überflieger, Aktivist. Dazu passt auch dieses so ungewöhnliche wie grandiose Buch. Es kommt als eine vielfach gebrochene Rechtfertigung und Doppelbiografie daher, weil die Geschichte Pompejis, beim legendären Vesuv-Ausbruchs 79 nach Christus verschüttet und ab 1748 wieder ausgegraben, mit der Lebensgeschichte seines Chefarchäologen verwoben wird. Die Persönlichkeit eines Forschers, seine Bildung, Religionszugehörigkeit, Vorlieben prägen seine Erkenntnisse, das hat das oberschwäbisch katholische Scheidungskind Zuchtriegel schon als Student bei dem Diskursanalysenvordenker Michel Foucault gelesen
Gabriel Zuchtriegels so famoses wie ungewöhnliches Buch "Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt".
"Ich bin Archäologe mit Schlagseite." Gabriel Zuchtriegel ist ein Phänomen. Seit 2021 leitet der 41-Jährige den Archäologischen Park der durch einen Vesuvausbruch zerstörten antiken Stadt Pompeji. Es ist eine der berühmtesten Ausgrabungsstätten der Welt, nur Rom, die Alhambra, Athen, die Pyramiden von Gizeh und das Tal der Könige haben für ein breiteres Publikum eine ähnliche Faszinationskraft. Als Gabriel Zuchtriegel ernannt wurde, begannen, er beschreibt es in seinem soeben erschienenen Buch "Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt" anschaulich, "sechs Wochen Dauerbeschuss" durch Gegner seiner Berufung. Er sei zu jung und zu unerfahren, 140 Kollegen unterschrieben eine Petition gegen ihn. Aus vollkommen heiterem Himmel kam dieser Widerstand allerdings nicht.
Gabriel Zuchtriegel ist kein akademischer Archäologe, der still vor sich hin gräbt, sondern einer, der anders denkt als die meisten seiner Kollegen: "Wenn wir als Gesellschaft in Denkmalschutz und Forschung investieren, was können Denkmalschutz und Forschung der Gesellschaft zurückgeben?" Das schreibt er nicht als rhetorische Frage, er lebt es. Also startete er ein Projekt, "das ich im ersten Jahr in Pompeji für mein wichtigstes halte", die Aufführung der "Vögel" des Aristophanes mit siebzig 14- bis 17-Jährigen aus der Gegend, oft arme Kinder, denen Pompeji genauso fremd war wie der griechische Komiker. Manche "mussten erst mal überzeugt werden, nicht bekifft zu den Proben zu kommen". Bei der Premiere im großen Theater vom Pompeji heulten viele, auch Zuchtriegel, "aber niemand bemerkte es, weil ich in der ersten Reihe saß". Mittlerweile wird in Pompeji auch wieder Wein produziert, 150 Schafe mähen das Gras zwischen den Ruinen, "kostenlos".
Hier schreibt Christian Baron über seine Kindheit und Jugend, umgeben von Männern des Prekariats. Anke Stelling erzählt von den unsichtbaren Grenzen, die unterschiedliches Kapital in Freundschaften ziehen. Hendrik Bolz, der als Rapper Testo heißt, dichtet die brutale Geschichte seiner eigenen Sozialisierung in "Nullerjahre" nach. Ein Roman wie Christian Krachts "Faserland" würde heute wohl kaum noch ohne einen Klappentext erscheinen, der die sozial gehobene Schicht des finanziell sorglos im Land herumvagabundierenden Ich-Erzählers thematisiert. Zumindest in Rezensionen des Buches würde sie benannt werden. Zu den gängigen Identitätskategorien race und gender hat sich die der Klasse gesellt.
Sozialarbeiter, Marketing-Genie, Querulant, Überflieger, Aktivist
Ist Gabriel Zuchtriegel, dieser "Archäologe mit Schlagseite", auch Sozialarbeiter, Marketing-Genie, Querulant, Überflieger, Aktivist? Ja. Denn all diese Spezialbegabungen sind für einen Archäologen, zumal den Chef von Pompeji, überlebenswichtig, um seinen Job im Sinne der von Zuchtriegel formulierten gesellschaftlichen Verpflichtung zu machen. Dazu passt auch dieses so ungewöhnliche wie grandiose Buch. Es kommt als eine vielfach gebrochene Rechtfertigung und Doppelbiografie daher, weil die Geschichte Pompejis, beim legendären Vesuv-Ausbruchs 79 nach Christus verschüttet und ab 1748 wieder ausgegraben, mit der Lebensgeschichte seines Chefarchäologen verwoben wird. Was nicht (nur) Gabriel Zuchtriegels Eitelkeit geschuldet ist. Sondern der Einsicht, "dass wir Wahrheit immer nur verpackt kriegen". Die Persönlichkeit eines Forschers, seine Bildung, Religionszugehörigkeit, Vorlieben prägen seine Erkenntnisse, das hat das oberschwäbisch katholische Scheidungskind Zuchtriegel schon als Student bei dem Diskursanalysenvordenker Michel Foucault gelesen.
"16 Quadratmeter ganz alltäglichen Elends." Unweit von Pompeji in Civita Giuliana entpuppte sich eine Grabung, wie so oft waren zuvor Raubgräber am Werk gewesen, "als die schönste Entdeckung, an der ich an meinem Archäologendasein bislang mitwirken konnte": besagter Miniraum mit Minifenster, drei Holzbetten, eines für ein Kind, Nachttopf, Tonkrüge, Decken, Amphoren. Drei Menschen haben hier gelebt und gearbeitet - waren es Sklaven? Jeder Tourist kennt in Neapel die bassi, die ärmlichen Kleinstwohnungen im Erdgeschoß von Palästen, da kommt die moderne "Stadt dem antiken Pompeji erstaunlich nah".
Die meisten Menschen in der Antike waren bitterarm, "man aß Brot, und das war's". In dem zu drei Viertel ausgegrabenen Pompeji wurden bisher 36 Bäckereien entdeckt und 80 Thermopolia, vulgo Fastfood-Filialen. Aufgrund einer Grabinschrift errechnet Zuchtriegel für den Großraum Pompeji eine Bevölkerung von 8000 freien Männern, dazu kamen Frauen, Kinder, Sklaven, es könnten insgesamt 45 000 Menschen gewesen seien. Die Hälfte lebte womöglich innerhalb der Stadtmauern in 1400 Wohnungen: "Pompeji war eine mit Menschen vollgestopfte Stadt." Das sind Zuchtriegels Schätzungen. Sicher ist, dass die 130 Quadratkilometer des Großraums Pompeji nicht ausreichten, um so viele Menschen mit Brot zu versorgen, auch wegen der vielen Luxuslandvillen sowie des lukrativen und deshalb exzessiv betriebenen Weinanbaus. Man war vom Getreideimport abhängig, eine vierjährige Lebensmittelknappheit ist belegt. Zuchtriegel vergleicht die Situation mit der Versorgung Nordafrikas mit ukrainischem Getreide. Die Armut und Rückständigkeit in Pompeji seien nur schwer vorstellbar.
Der Archäologe erklärt, dass seine Faszination für die Antike vermutlich auch von der Sehnsucht geprägt wurde, "in der Vergangenheit nicht nur eine andere Welt zu finden, sondern eine, die echter, wahrer, besser war". Zumal im Sozialen war sie das jedoch nicht. Doch es gibt auch noch andere Aspekte der Epoche. Zuchtriegel entwirft unterhaltsam mäandernd und aus vielen Mosaiksteinchen ein schillernd brüchiges Alltagsbild, in dem dann auch die Standardthemen der Pompeji-Literatur vorkommen. Sexualität und Religion spielen eine beherrschende, sich auch gegenseitig befruchtende Rolle.
"Niemand musste sich auf eine bestimmte sexuelle Orientierung festlegen." Das klingt modern, war aber römischer Alltag. Vor allem für die freien Männer, die sich ihre Partner aussuchen konnten. Mann war durchaus bisexuell. Nur freier Mann mit freiem Mann, das war unmöglich. Starautor Cicero schwärmte für seinen Privatsekretär, einen Sklaven, Hadrian für einen nichtrömischen Epheben. In den Statuen der Villen wurde gern die "Sinnlichkeit des männlichen Körpers", meist des nackten, gefeiert. Hermaphrodit, Kind der beiden in seinem Namen genannten Götter, entpuppt sich in Darstellungen anders als beim Großdichter Ovid als eine vollkommen schöne Frau, zusätzlich ausstaffiert mit Hoden und Penis. Was nicht nur den Hirtengott Pan erschreckt, als er seinen Irrtum bemerkt: "Phallus trifft auf Phallus."
Erotik war zwar den Römern ursprünglich fremd, Vergewaltigung aber so alltäglich, dass es nicht einmal ein eigenes Wort dafür gab. Auch Frauenfeindlichkeit war gang und gäbe. Sie ist bekanntermaßen nicht mit der Antike verschwunden. Zuchtriegel erinnert an die Machowitzeleien von Archäologenmännern angesichts der ersten Genderstudies, und er würdigt die Pionierin Margarete Bieber (1879 - 1978), eine der großen, aber fast vergessenen Archäologinnen.
Öfter legt die antike Literatur falsche Fährten. Auch im Fall der Villa dei Misteri, deren Freskenzyklus weltberühmt ist, keine andere antike Wandmalerei ist derart umfangreich und faszinierend. Im Zentrum sieht der Besucher das teilweise zerstörte Bild von Rausch- und Skandalgott Dionysus mit einer Frau (Ariadne? Selene?), dazu eine Auspeitschung, eine Nackttänzerin, einen alten Suffkopf, einen nackten Musiker, einen lesenden Jungen, einen Korb mit etwas Verhülltem (Phallus) darin. Seit der Entdeckung vor 100 Jahren reizt dieser Zyklus zu immer neuen Deutungen. Man hat darin einen Mysterienkult entdecken wollen, Hochzeitsriten oder einen "dionysischen Sommertagstraum". Gabriel Zuchtriegel ist enttäuschend vorsichtig: "Sich dogmatisch auf eine Lesart zu versteifen, ist das Falscheste, was man tun kann." Vermutlich steckt hier auch schon Kunst im modernen Sinn drin, die Antike kannte allerdings keine L'art pour l'art.
Sicher spielt hier auch Religion eine Rolle, schließlich "gab es keine Trennung zwischen Welt und Göttern". Aber was war das für eine Religion? Ist das monotheistische Christentum hilfreich für ihr Verständnis oder hinderlich? Gabriel Zuchtriegel wirft solche Fragen gern auf, verzaubert dann mit einem neuen Detail und lässt zuletzt seine glücklichen Leser und Leserinnen allein weiterträumen. Es wäre keine Überraschung, wenn in nächster Zeit halb Deutschland nach Pompeji reisen wird.
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