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Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat - Rezensiert in der SZ von Christiane Lutz
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»Utopia is back!« Thomas Piketty
Ob Care-Arbeit, Erziehung oder Bildung: Viele Bereiche unseres Alltags sind ungerecht organisiert - zumeist tragen Frauen die Hauptlast. Sie sollen sich um die Kinder kümmern, den Haushalt besorgen, die kranke Verwandtschaft pflegen und ihre ökonomische Unabhängigkeit doch gefälligst für ein Leben in der Kleinfamilie aufgeben.Im Laufe der Geschichte haben Philosophen, Aktivistinnen und Pioniere nach alternativen Lebensformen gesucht: von den rein weiblichen »Beginenhöfen« im mittelalterlichen Belgien über die matriarchalischen Ökodörfer im heutigen Kolumbien; von der Kommune des Pythagoras bis hin zu Produktions- und Wohngenossenschaften frühsozialistischer Utopisten. Kristen Ghodsee hat zahlreiche inspirierende Beispiele zu einer radikal hoffnungsvollen Vision versammelt. Einige dieser Experimente waren ein kurzes Leuchtfeuer, andere sind der lebende Beweis dafür, dass eine andere Welt möglich ist. Utopien für den Alltag ist auch ein praktischer Leitfaden für alle, die auf der Suche nach Ideen sind, wie wir gleichberechtigter und glücklicher leben können.
Vollständige Rezension anzeigen Die Art, wie wir leben, ist nicht naturgegeben Die amerikanische Kulturhistorikerin Kristen R. Ghodsee hat Alternativen zum Patriarchat geprüft. Vater, Mutter, Kind unter einem Dach. Von den Nachbarn durch Wände getrennt, die Großeltern ganz woanders. In der Erziehung ihrer Kinder sind die Eltern allein auf weiter Flur. So wohnt die sogenannte Kernfamilie in den meisten westlichen Gesellschaften. Warum ist das so? Und muss das so sein? Für Kristen R. Ghodsee, Professorin für Russische und Osteuropäische Studien an der University of Pennsylvania und Autorin des Sachbuchs "Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben", muss es überhaupt nicht. In ihrem neuen Buch "Utopien für den Alltag - Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat" führt sie auf unterhaltsame Weise aus, dass Utopien gar nicht so utopisch sind wie oft behauptet. Denn vieles, was als "Alternative zum Patriarchat" gelten könnte, gab oder gibt es bereits in irgendeiner Form. Ihr Buch bietet darüber einen historischen und soziologischen Überblick. Mit Definitionen davon, was sie zum Beispiel mit "Patriarchat" meint, hält sich Ghodsee nicht lange auf, sie legt direkt los. Es ist ja auch eher unstrittig , dass Gesellschaften von männerdominierten Strukturen zumindest noch durchzogen sind. Als von diesem Status quo bestimmte und dementsprechend bedenkenswerte Themen macht sie verschiedene Lebensbereiche aus: die Wohnsituation von Familien, die Idee der "Kernfamilie", Kinderbetreuung und Bildung, die Idee von Eigentum und das Fehlen echter sozialer Netzwerke. "Zuhause ist, wo die Mauern sind" Dabei liegt der Fokus nicht auf der Emanzipation der Frauen. Sie wolle, so Ghodsee, eine "zugängliche Einführung" in die Ideen aus verschiedenen "Denktraditionen" bieten, die dabei helfen könnten, "einen Weg in eine andere Zukunft" zu gehen. Um ein feministisches Manifest geht es ihr nicht. Immer wieder im Blick hat sie dabei Platons "Staat". Ihrem eigenen Buch liegt aber natürlich die Überzeugung zugrunde, dass patriarchale Strukturen für Männer und Frauen schädlich sind, Frauen allerdings mehr zu verlieren haben, etwa finanzielle Sicherheit oder persönliche Freiheit. Am Beispiel der Wohnsituation - die Kernfamilie unter einem Dach - lasse sich sehr gut erkennen, wie nachteilig sich etablierte Strukturen auf Frauen auswirkten. "Zuhause ist, wo die Mauern sind", schreibt sie. Das geht so lang gut, bis das Kind krank ist und sich intensiver gekümmert werden muss. "Unsere Lebensweise - allein schon der Zuschnitt unserer Wohnungen - stützt auch die gesellschaftliche Norm, dass Care-Arbeit innerhalb jedes einzelnen Haushalts zu leisten ist, und zwar meist von Frauen." Darunter leiden wiederum die Karrieren von Frauen, finanzielle Abhängigkeiten festigen sich. Die Pandemie ist für Ghodsee dabei das aktuelle, krasse Beispiel für den Rückfall in uralte Rollenmuster an. Dabei gab es in der Geschichte schon etliche alternative Wohn- und Care- und Familienmodelle: Bei Platon, in Klosterorden und Kibbuzim in Israel bis hin zu modernen Co-Living Modellen. Der französische Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier entwarf im frühen 19. Jahrhundert die sogenannte "Phalanstère", eine Wohnanlage, in der Frauen und Männer gleichberechtigt leben und Kinder gemeinsam aufziehen sollten. Das Teilen von Raum oder verschafft den Menschen Freiheit - vor allem den Frauen Den heutigen kollektiven Wohnmodellen liegen häufig religiöse, gemeinschaftliche oder ökologische Grundsätze zugrunde, aber sie eint in der Regel, dass Betreuung und Erziehung aufgewertet, Eigentum anders gedacht und das Leben für alle vereinfacht werden soll. Zu Ghodsees "Utopie" gehört außerdem auch die Infragestellung von Eigentum. Dabei trennt sie zwischen den Begriffen "Besitz" und "Privateigentum": "Wenn ich ein Haus mein Eigen nenne und darin lebe, dann ist das etwas grundlegend anderes als das Eigentum zahlreicher Immobilien, die ich an weniger Glückliche vermiete" , schreibt sie. Wobei ihre Kritik weniger ein Plädoyer für Minimalismus ist, als der Überzeugung folgt, dass das Teilen von Raum oder Dingen den Menschen Freiheit verschafft. Indem etwa weniger Geld für Erwerb von Immobilien oder die Abbezahlung von Krediten erwirtschaftet werden muss - was Menschen in starren Beziehungsmodellen hält - ermöglicht die Idee des Sharing vor allem Frauen mehr Unabhängigkeit. Worauf Ghodsee hinauswill: Die Art, wie wir leben, ist keineswegs naturgegeben, sie wurde von Menschen erfunden. Vor allem zum Schutz von Eigentum, von männlichen Interessen oder jenen der Kirche - was lange Zeit dasselbe war. Und weil das so ist, ist sie veränderbar. Keines der Modelle, die Ghodsee vorstellt, ist perfekt, aber sie beinhalten Möglichkeiten. In ihrem etwas pathetischen Schlusskapitel schreibt sie: "Veränderungen wurden stets von denen vorangetrieben, die sich nicht von ihrem Glauben an das Bessere abbringen lassen. Die Hoffnung ist ein Muskel, der genutzt werden will." Auch wenn gesellschaftliche Veränderungsprozesse lang dauerten: nicht entmutigen lassen. Ein etwas wohlfeiles Fazit, Hoffnung allein wird es kaum richten. Schaden tut sie aber natürlich nicht.
Die amerikanische Kulturhistorikerin Kristen R. Ghodsee hat Alternativen zum Patriarchat geprüft.
Vater, Mutter, Kind unter einem Dach. Von den Nachbarn durch Wände getrennt, die Großeltern ganz woanders. In der Erziehung ihrer Kinder sind die Eltern allein auf weiter Flur. So wohnt die sogenannte Kernfamilie in den meisten westlichen Gesellschaften. Warum ist das so? Und muss das so sein? Für Kristen R. Ghodsee, Professorin für Russische und Osteuropäische Studien an der University of Pennsylvania und Autorin des Sachbuchs "Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben", muss es überhaupt nicht. In ihrem neuen Buch "Utopien für den Alltag - Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat" führt sie auf unterhaltsame Weise aus, dass Utopien gar nicht so utopisch sind wie oft behauptet. Denn vieles, was als "Alternative zum Patriarchat" gelten könnte, gab oder gibt es bereits in irgendeiner Form. Ihr Buch bietet darüber einen historischen und soziologischen Überblick.
Mit Definitionen davon, was sie zum Beispiel mit "Patriarchat" meint, hält sich Ghodsee nicht lange auf, sie legt direkt los. Es ist ja auch eher unstrittig , dass Gesellschaften von männerdominierten Strukturen zumindest noch durchzogen sind. Als von diesem Status quo bestimmte und dementsprechend bedenkenswerte Themen macht sie verschiedene Lebensbereiche aus: die Wohnsituation von Familien, die Idee der "Kernfamilie", Kinderbetreuung und Bildung, die Idee von Eigentum und das Fehlen echter sozialer Netzwerke.
"Zuhause ist, wo die Mauern sind"
Dabei liegt der Fokus nicht auf der Emanzipation der Frauen. Sie wolle, so Ghodsee, eine "zugängliche Einführung" in die Ideen aus verschiedenen "Denktraditionen" bieten, die dabei helfen könnten, "einen Weg in eine andere Zukunft" zu gehen. Um ein feministisches Manifest geht es ihr nicht. Immer wieder im Blick hat sie dabei Platons "Staat". Ihrem eigenen Buch liegt aber natürlich die Überzeugung zugrunde, dass patriarchale Strukturen für Männer und Frauen schädlich sind, Frauen allerdings mehr zu verlieren haben, etwa finanzielle Sicherheit oder persönliche Freiheit.
Am Beispiel der Wohnsituation - die Kernfamilie unter einem Dach - lasse sich sehr gut erkennen, wie nachteilig sich etablierte Strukturen auf Frauen auswirkten. "Zuhause ist, wo die Mauern sind", schreibt sie. Das geht so lang gut, bis das Kind krank ist und sich intensiver gekümmert werden muss.
"Unsere Lebensweise - allein schon der Zuschnitt unserer Wohnungen - stützt auch die gesellschaftliche Norm, dass Care-Arbeit innerhalb jedes einzelnen Haushalts zu leisten ist, und zwar meist von Frauen." Darunter leiden wiederum die Karrieren von Frauen, finanzielle Abhängigkeiten festigen sich. Die Pandemie ist für Ghodsee dabei das aktuelle, krasse Beispiel für den Rückfall in uralte Rollenmuster an.
Dabei gab es in der Geschichte schon etliche alternative Wohn- und Care- und Familienmodelle: Bei Platon, in Klosterorden und Kibbuzim in Israel bis hin zu modernen Co-Living Modellen. Der französische Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier entwarf im frühen 19. Jahrhundert die sogenannte "Phalanstère", eine Wohnanlage, in der Frauen und Männer gleichberechtigt leben und Kinder gemeinsam aufziehen sollten.
Das Teilen von Raum oder verschafft den Menschen Freiheit - vor allem den Frauen
Den heutigen kollektiven Wohnmodellen liegen häufig religiöse, gemeinschaftliche oder ökologische Grundsätze zugrunde, aber sie eint in der Regel, dass Betreuung und Erziehung aufgewertet, Eigentum anders gedacht und das Leben für alle vereinfacht werden soll.
Zu Ghodsees "Utopie" gehört außerdem auch die Infragestellung von Eigentum. Dabei trennt sie zwischen den Begriffen "Besitz" und "Privateigentum": "Wenn ich ein Haus mein Eigen nenne und darin lebe, dann ist das etwas grundlegend anderes als das Eigentum zahlreicher Immobilien, die ich an weniger Glückliche vermiete" , schreibt sie. Wobei ihre Kritik weniger ein Plädoyer für Minimalismus ist, als der Überzeugung folgt, dass das Teilen von Raum oder Dingen den Menschen Freiheit verschafft. Indem etwa weniger Geld für Erwerb von Immobilien oder die Abbezahlung von Krediten erwirtschaftet werden muss - was Menschen in starren Beziehungsmodellen hält - ermöglicht die Idee des Sharing vor allem Frauen mehr Unabhängigkeit.
Worauf Ghodsee hinauswill: Die Art, wie wir leben, ist keineswegs naturgegeben, sie wurde von Menschen erfunden. Vor allem zum Schutz von Eigentum, von männlichen Interessen oder jenen der Kirche - was lange Zeit dasselbe war. Und weil das so ist, ist sie veränderbar.
Keines der Modelle, die Ghodsee vorstellt, ist perfekt, aber sie beinhalten Möglichkeiten. In ihrem etwas pathetischen Schlusskapitel schreibt sie: "Veränderungen wurden stets von denen vorangetrieben, die sich nicht von ihrem Glauben an das Bessere abbringen lassen. Die Hoffnung ist ein Muskel, der genutzt werden will." Auch wenn gesellschaftliche Veränderungsprozesse lang dauerten: nicht entmutigen lassen. Ein etwas wohlfeiles Fazit, Hoffnung allein wird es kaum richten. Schaden tut sie aber natürlich nicht.
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