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Zehn Thesen - Rezensiert in der SZ von Jens-Christian Rabe
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Vollständige Rezension anzeigen Enorme Hypotheken Der Historiker Jörn Leonhard hat beispielhaft umsichtig erforscht, wie Kriege enden. Lässt sich daraus etwas über den Ausgang in der Ukraine schließen? Über anderthalb Jahre dauert der Krieg in der Ukraine nun schon, mehr als 18 Monate - und ein baldiges Ende scheint unwahrscheinlicher denn je. Das neue Buch "Über Kriege und wie man sie beendet - Zehn Thesen" des Freiburger Historikers Jörn Leonhard macht in dieser Situation allein deshalb neugierig, weil sich sein Titel so beherzt gegen die bedrückende Aussichtslosigkeit wendet. Die meisten Menschen außerhalb der Ukraine dürften im Moment ja schon zufrieden sein, wenn die große, schlimmstenfalls atomare Eskalation ausbleibt. Man verrät allerdings nicht zu viel, wenn man sagt, dass auch Leonhard, der zu den umsichtigsten Historikern des Landes gehört, nicht das Friedensorakel geben mag. Im Gegenteil, auch er prognostiziert schon in der Einleitung einen einstweilen "unabsehbar langen Abnutzungskrieg". Er mag auch nicht - wie so manche mehr oder weniger Sachverständige des aktuellen Kommentariats - die aktuelle Krise "an die Geschichte delegieren". Geschichte wiederhole sich nicht, und sie liefere auch "keine Blaupausen für Entscheidungen". Geschichte immunisiert gegen einfach Lösungen Sein Ansatz ist nüchterner: Geschichte sei ein großes Reservoir für Konstellationen, sie offenbare "Verlaufsmuster und Handlungslogiken genauso wie Ambivalenzen und paradoxe Situationen". Vor allem aber kommt es ihm auf etwas an, dem theoretisch jeder und jede zustimmen wird - um es im nächsten Moment doch wieder zu vergessen: Geschichte "immunisiert gegen einfache Lösungen, Erklärungen, Analogien und Vergleiche". Jeder seiner Thesen ist eines der zehn Kapitel gewidmet, wobei sie jeweils eine Art Quintessenz ist nach dem Durchgang durch diverse Kriegsszenarien vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Die Fähigkeit Leonhards, in so gehaltvollen wie eleganten Skizzen aus dem Besonderen etwas Allgemeines abzuleiten - etwa dass echte Entscheidungsschlachten selten sind oder ein "fauler Frieden" den Krieg verlängern kann -, macht die Lektüre ungewöhnlich kurzweilig. Die Schlüsse zum weiteren Verlauf des Ukrainekriegs, in dessen Schatten das Buch geschrieben wurde, überlässt Leonhard konsequenterweise seinen Leserinnen und Lesern. Was er mit Blick auf den Ersten Weltkrieg und den Vietnamkrieg schreibt, dürfte weiter gelten: "Solange die Beteiligten kalkulierten, dass sie selbst den Konflikt noch zu ihren eigenen Bedingungen gewinnen oder mindestens günstige Bedingungen für eine absehbare Friedensverhandlung herstellen konnten, verlängerte sich der Krieg." Im Grunde liefert Leonhard einen Grundkurs darin, sich vor falschen Hoffnungen zu hüten und mit dem zu rechnen, was einem als Zivilist eher kontraintuitiv erscheint: Die Verknappung kriegswichtiger Güter etwa, die in den vergangenen Monaten schon häufiger als akutes Problem Russlands geschildert wurde, wirkt oft nicht kurzfristig. Mangel, so Leonhard, werde nicht selten zumindest kurz- und mittelfristig durch intensivierte Lern- und Anpassungsprozesse kompensiert. Dazu kommt ein nicht unerheblicher Vorteil für Autokratien: "Je repressiver die Strukturen eines Regimes waren, desto weniger mussten die Verantwortlichen in Phasen der Knappheit und des Mangels Rücksicht auf die Belastungen und das Leid der Menschen nehmen." Endphasen von Konflikten können in diesem Sinn oft Phasen sein, in denen die Gewalt von den Konfliktparteien noch einmal intensiviert wird, "um bei künftigen Friedensverhandlungen eine möglichst gute Ausgangsposition zu haben". Notwendig, aber auch alles andere als zuversichtlich stimmend ist gegen Ende der Hinweis, dass die Entkriminalisierung des Feindes nach den Exzessen im 17. Jahrhundert inzwischen längst von der Vorstellung verdrängt worden sei, dass der Krieg ein Verbrechen und damit ein Bruch moralischer Normen sei. In Kategorien des Rechts über den Krieg zu sprechen, ist ein gewaltiger Schritt in Richtung einer universell gültigen, legitimen Friedensordnung gewesen. "Einen stabilen Frieden ohne den Anspruch auf Gerechtigkeit können wir uns heute nicht mehr vorstellen", schreibt Leonhard dazu. Es entgeht ihm aber auch nicht, dass "dieser historisch entstandene Anspruch eine enorme Hypothek jeder Friedensgestaltung" sei, die ja immer auch als "langfristiger mentaler Prozess" verstanden werden müsse. Düstere Dialektik des Fortschritts.
Der Historiker Jörn Leonhard hat beispielhaft umsichtig erforscht, wie Kriege enden. Lässt sich daraus etwas über den Ausgang in der Ukraine schließen?
Über anderthalb Jahre dauert der Krieg in der Ukraine nun schon, mehr als 18 Monate - und ein baldiges Ende scheint unwahrscheinlicher denn je. Das neue Buch "Über Kriege und wie man sie beendet - Zehn Thesen" des Freiburger Historikers Jörn Leonhard macht in dieser Situation allein deshalb neugierig, weil sich sein Titel so beherzt gegen die bedrückende Aussichtslosigkeit wendet. Die meisten Menschen außerhalb der Ukraine dürften im Moment ja schon zufrieden sein, wenn die große, schlimmstenfalls atomare Eskalation ausbleibt.
Man verrät allerdings nicht zu viel, wenn man sagt, dass auch Leonhard, der zu den umsichtigsten Historikern des Landes gehört, nicht das Friedensorakel geben mag. Im Gegenteil, auch er prognostiziert schon in der Einleitung einen einstweilen "unabsehbar langen Abnutzungskrieg". Er mag auch nicht - wie so manche mehr oder weniger Sachverständige des aktuellen Kommentariats - die aktuelle Krise "an die Geschichte delegieren". Geschichte wiederhole sich nicht, und sie liefere auch "keine Blaupausen für Entscheidungen".
Geschichte immunisiert gegen einfach Lösungen
Sein Ansatz ist nüchterner: Geschichte sei ein großes Reservoir für Konstellationen, sie offenbare "Verlaufsmuster und Handlungslogiken genauso wie Ambivalenzen und paradoxe Situationen". Vor allem aber kommt es ihm auf etwas an, dem theoretisch jeder und jede zustimmen wird - um es im nächsten Moment doch wieder zu vergessen: Geschichte "immunisiert gegen einfache Lösungen, Erklärungen, Analogien und Vergleiche".
Jeder seiner Thesen ist eines der zehn Kapitel gewidmet, wobei sie jeweils eine Art Quintessenz ist nach dem Durchgang durch diverse Kriegsszenarien vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Die Fähigkeit Leonhards, in so gehaltvollen wie eleganten Skizzen aus dem Besonderen etwas Allgemeines abzuleiten - etwa dass echte Entscheidungsschlachten selten sind oder ein "fauler Frieden" den Krieg verlängern kann -, macht die Lektüre ungewöhnlich kurzweilig.
Die Schlüsse zum weiteren Verlauf des Ukrainekriegs, in dessen Schatten das Buch geschrieben wurde, überlässt Leonhard konsequenterweise seinen Leserinnen und Lesern. Was er mit Blick auf den Ersten Weltkrieg und den Vietnamkrieg schreibt, dürfte weiter gelten: "Solange die Beteiligten kalkulierten, dass sie selbst den Konflikt noch zu ihren eigenen Bedingungen gewinnen oder mindestens günstige Bedingungen für eine absehbare Friedensverhandlung herstellen konnten, verlängerte sich der Krieg."
Im Grunde liefert Leonhard einen Grundkurs darin, sich vor falschen Hoffnungen zu hüten und mit dem zu rechnen, was einem als Zivilist eher kontraintuitiv erscheint: Die Verknappung kriegswichtiger Güter etwa, die in den vergangenen Monaten schon häufiger als akutes Problem Russlands geschildert wurde, wirkt oft nicht kurzfristig. Mangel, so Leonhard, werde nicht selten zumindest kurz- und mittelfristig durch intensivierte Lern- und Anpassungsprozesse kompensiert.
Dazu kommt ein nicht unerheblicher Vorteil für Autokratien: "Je repressiver die Strukturen eines Regimes waren, desto weniger mussten die Verantwortlichen in Phasen der Knappheit und des Mangels Rücksicht auf die Belastungen und das Leid der Menschen nehmen." Endphasen von Konflikten können in diesem Sinn oft Phasen sein, in denen die Gewalt von den Konfliktparteien noch einmal intensiviert wird, "um bei künftigen Friedensverhandlungen eine möglichst gute Ausgangsposition zu haben".
Notwendig, aber auch alles andere als zuversichtlich stimmend ist gegen Ende der Hinweis, dass die Entkriminalisierung des Feindes nach den Exzessen im 17. Jahrhundert inzwischen längst von der Vorstellung verdrängt worden sei, dass der Krieg ein Verbrechen und damit ein Bruch moralischer Normen sei. In Kategorien des Rechts über den Krieg zu sprechen, ist ein gewaltiger Schritt in Richtung einer universell gültigen, legitimen Friedensordnung gewesen.
"Einen stabilen Frieden ohne den Anspruch auf Gerechtigkeit können wir uns heute nicht mehr vorstellen", schreibt Leonhard dazu. Es entgeht ihm aber auch nicht, dass "dieser historisch entstandene Anspruch eine enorme Hypothek jeder Friedensgestaltung" sei, die ja immer auch als "langfristiger mentaler Prozess" verstanden werden müsse. Düstere Dialektik des Fortschritts.
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