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Der Westen, der Osten und ich - Rezensiert in der SZ von Joachim Käppner
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Ein persönlicher Blick auf eine Epoche der Freiheit im Osten wie im Westen Europas. Glänzend erzählt.Mit spielerischem Scharfsinn hilft uns Adam Soboczynski uns selbst ebenso zu verstehen wie diesen seltsamen Osten Europas. Er erzählt von seiner Jugend in der Bonner und dem Erwachsensein in der Berliner Republik, von der großen Freiheit zwischen den Jahren 1989 und 2022, und wie sie verloren zu gehen droht - in beiden Teilen Europas. Im Osten wird sie von außen bedroht, im Westen durch innere Kämpfe.Adam Soboczynski zieht als Sechsjähriger aus Polen in die westdeutsche Provinz. Er verlässt mit seinen Eltern die Arbeitersiedlung einer polnischen Chemiefabrik und gelangt in ein fremdes Traumland voller Wunderwerke wie den Ford Capri, die große Trommel Chio Chips und Freiheit. Dass er in seiner neuen Heimat ganz angekommen ist, merkt er Jahre später, als er Deutschland genauso vermieft und unerträglich findet, wie es sich für einen echten Deutschen gehört. Sein Blick wandert immer wieder in den Osten Europas, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zur Blüte gelangt und bald schon wieder bedroht wird. Und wer hätte gedacht, dass sich auch die Freiheit im Westen in Gefahr befindet? Durch Trump und die AfD, aber auch durch die allgegenwärtige Empfindlichkeit der Aufklärungs- und Liberalismuskritiker. Ein heiteres, ein melancholisches, ein kluges und gegenwärtiges Buch.
Vollständige Rezension anzeigen Deutsche, bitte heult leiser Als Kind wanderte Adam Soboczynski von Polen nach Deutschland aus, also ins Paradies. "Traumland" erzählt so klug wie hochamüsant von einer Nation, die viel hat, vor allem: schlechte Laune. In den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik auch in jenen Ländern, die man heute gern kollektiv als "globalen Süden" bezeichnet, hängen oft Poster, welche Deutschland als Postkartenidyll preisen: die verspielte Pracht von Neuschwanstein vor Bergen und weißblauem Himmel, das von fröhlichen Menschen durcheilte Brandenburger Tor und so fort. Gleichzeitig versuchen die Botschaftsangestellten, jene Menschen mehrheitlich fernzuhalten, die sich genau so ihr Traumland Deutschland vorstellen und nichts lieber täten, als sich mit Kind und Kegel dort niederzulassen, weit fort von den Nöten, Gefahren und Traumata des eigenen Landes. Und wenn Geflüchtete durch Wüsten und über Meere kommen und an der Küste von Lampedusa stranden, dann haben viele von ihnen ein Sehnsuchtsziel, das Deutschland heißt. Genauso war es 1981 für die Familie Soboczynski, als sie ein paar Habseligkeiten in ein Taxi packte und die lange Reise nach Westen begann. Merkwürdigerweise und wie eine Verheißung war das Fahrzeug ein Mercedes, weltweit als Symbol des (west-)deutschen Wohlstands anerkannt; merkwürdig, da die Fahrt im polnischen Torun nahe Warschau begann: "Dass es ein Mercedes war, weißglänzend und lang, schien meinen Eltern bedeutsam, ein im Ostblock seltenes Auto, und weiß der Teufel, woher der Fahrer ihn hatte. Mein Vater sagte scherzhaft, wir seien sozusagen schon im Westen." "Eine Welt, in der die Männer schon morgens so viel soffen, dass die Frauen sie aufs Feld prügeln mussten." So beschreibt Adam Soboczynski den Aufbruch in das Traumland der Eltern, noch aus der Perspektive des Kindes. Die deutschen Wurzeln der Mutter erwiesen sich nun als Glück, sie erlaubten, was sonst jenseits des Eisernen Vorhangs undenkbar war: die legale Ausreise aus dem kommunistischen Block. In Warschau herrschte eine brutale Militärdiktatur, die eben erst den Danziger Aufstand der Gewerkschaft "Solidarność" niedergeworfen hatte, der Vater war schon 1970 bei einem Aufbegehren der Arbeiter gegen den angeblichen Arbeiterstaat dabeigewesen. Eine neue politische Eiszeit legte sich über das geplagte Land. Was Marxismus-Leninismus, über den sich im Westen viele Intellektuelle die seltsamsten Illusionen machten, de facto bedeutete, darüber war sich die Familie Soboczynski so klar wie die Mehrheit der Polen. Es bedeutete Unfreiheit und Unterdrückung, es war "eine Welt, in der die Frauen mit vierzig schon aussahen wie heute Sechzigjährige, in der die Männer schon morgens so viel soffen, dass die Frauen sie aufs Feld prügeln mussten, und in der die verlogenen Priester ungefähr so machtvoll waren wie die verlogenen Parteisekretäre“. Wie die Familie 1981 die Bundesrepublik erreichte und sich dort zurechtfand und integrierte, gut und durch harte Arbeit, ist das eine Thema von Soboczynskis Buch "Traumland". Sie durfte daran arbeiten, dass die nächste Generation es besser haben würde, sie tat das mit Hingabe und Erfolg. Der Autor ist Literaturchef der Zeit und dem Fernsehpublikum auch aus dem "Literarischen Quartett" bekannt, in dem er öfter zu sehen ist. Eine unstatthafte Verklärung der neuen Heimat kann man ihm dabei nicht vorwerfen, denn bald wurde ihm eines klar: "Dass es, umgekehrt, ein Land sehr berechtigter, unendlicher Scham war, ein Land der Verbrecher und Mörder, von denen noch viele munter vor sich hin lebten. Ich wusste damals nicht, dass ich aus einem Land der Opfer in ein Land der Täter zog, aus einem Land des Stolzes in ein Land der Befangenheit." Die eigentliche Geschichte von "Traumland" erschließt sich gerade vor dem Hintergrund der Nazivergangenheit anfangs eher en passant, dann immer deutlicher. Vereinfacht gesagt erzählt er von ganz normalen Menschen, seiner Familie, die das seltene Glück hatten, die Welten wechseln zu dürfen und in der besseren angekommen zu sein - und dabei erstaunt feststellten, dass viele Bewohner dieser Welt alles, was sie haben, für selbstverständlich halten, und alles, was sie nicht haben, zum Anlass eines beständigen Lamentos nehmen. Für sie ist das Glas grundsätzlich halb leer. Soboczynski betrachtet dieses Land mal von innen, mal von außen, er kennt beide Perspektiven, das macht den besonderen Reiz dieses ganz und gar wunderbar geschriebenen und klugen Buches aus. Über die Franzosen sagt ein boshaftes Bonmot: Sie leben im Paradies auf Erden, sind aber die Einzigen auf dieser Erde, die das nicht verstehen. Lieber errichten sie Barrikaden und zünden das Stammlokal ihres Präsidenten an, weil sie nicht mehr ganz so früh in Rente gehen sollen. Der Verdruss an "denen da oben", "der Politik" oder gar "dem System" ist in Deutschland kaum geringer als in Frankreich, nur nicht so militant (Lenin soll ja gesagt haben: Deutsche Revolutionäre lösen eine Bahnsteigkarte, bevor sie den Bahnhof besetzen). Aber in Umfragen wachsen auch hier die Zweifel an der Demokratie, obwohl Deutschland, eine Nation, die alle Abgründe der Diktatur durchschritten hat, heute freier ist und mehr Teilhabe ermöglicht als je zuvor. Manchmal führt diese Verdrossenheit zu den seltsamsten Kontrasten: Ein und dasselbe Staatswesen wird von rechter Seite bezichtigt, die Gesellschaft durch Massenmigration manipulieren zu wollen, während Linke von einem unheilbar rassistischen System sprechen. Woke Akademiker und irrlichternde Konservative liefern sich einen alle Elemente von westlichen Luxusproblemen tragenden Culture Clash, für den die USA ein tristes und beunruhigendes Vorbild sind. Und wem die gewählte Regierung nicht passt, der schreit im Bierzelt, man müsse "sich die Demokratie zurückholen". Natürlich gibt es in einer Demokratie Sorgen, Fehler und Probleme, manche in olympischem Ausmaß. Aber eine Haltung greift um sich, die schon die Existenz von Fehlern und Problemen als Beleg dafür nimmt, wie verkommen und falsch die Republik und die Regierenden seien, statt die offene Gesellschaft als das zu begreifen, was sie ist: eine Einladung zur Mitgestaltung bei der Lösung. Im Kontrast noch einmal ein Rückblick auf den Sozialismus und auf Polen, wo Soboczynski 1975 geboren wurde: "Gehungert wurde nicht, das ist eine Legende. Aber die Erniedrigung: wie Zootiere auf Fütterungszeiten zu warten. Und schon bald die bleierne Gewissheit, dass es nicht mehr besser werden würde." Das weltanschauliche Selbstmitleid begleitet diese Republik seit Jahrzehnten Adam Soboczynski beschreibt dieses Deutschland, erst das westliche, dann das vereinte, mit Sympathie und Dankbarkeit, aber auch wie ein Entdeckungsreisender des 19. Jahrhunderts voller Staunen über ein faszinierendes Wunderland, dessen Einwohner den rätselhaftesten Sitten nachhängen. Zu ihren merkwürdigsten Eigenschaften gehört eine sorgfältig gepflegte, politische Milieus und Deutungsmuster mühelos überspringende üble Laune und Unzufriedenheit. Soboczynskis Reise führt ins Herz des deutschen Grants, was so amüsant wie tiefsinnig ist - und auch ein wenig beruhigend, weil es in Erinnerung ruft, dass der Unwille zur Gelassenheit, der Verdruss an Politik und "Eliten" und das weltanschauliche Selbstmitleid die Republik seit Jahrzehnten begleiten und sie all das ertragen hat wie ein zuverlässiger Lastesel. Und je mehr man "Traumland" liest, desto stärker wird der Eindruck: Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas, für den es viele seiner Bürger halten - aber weil sie das tun, ist es auf jeden Fall einer der ganz großen Hypochonder Europas. Und so führt der Autor den Leser durch die Achtziger des ungeliebten Helmut Kohl (in der Schule wurde geklagt, dass man in einem "spießbürgerlichen Land lebt, das von einem besonders unattraktiven und besonders dicken Kanzler regiert wird, der gewählt worden ist, um für immer zu bleiben"), in das Nachwendeberlin, in die Szeneviertel des Westens ("Als die Mauer fiel, war man in Kreuzberg besonders schlecht gelaunt. Jetzt wurde man gestört und aufgescheucht.") und in den Prenzlauer Berg, bevor der Tsunami der Gentrifizierung das Viertel traf ("Die Nachbarn schwer wendegeschädigt und aus Prinzip wortkarg. Der Hauswart ... reparierte alles, aber mit Hass."). Als neueste Variante des ewigen deutschen Lamentos empfindet der Autor die Wokeness, die erwartungsgemäß wenig Gnade in seinen Augen findet. Das mag etwas ungerecht sein, denn die bizarren Beispiele für politische Überkorrektheiten, über die sich dann die halbe Republik aufregt oder erheitert, sind ja eher der närrische Rand einer Reformbewegung, die durchaus einen Punkt hat. Andererseits hat Adam Soboczynski ebenfalls einen mit der sehr nachvollziehbaren Frage, ob ausgerechnet eine Bewegung, die für mehr Achtsamkeit und Gleichberechtigung eintritt, die größte Bedrohung für solche Werte gar nicht wirklich wahrnimmt, nämlich die Gefahr von rechts: "Ich war einst von einem geknechteten Land ins Paradies gezogen und konnte den Aufstieg Putins und der AfD, Orbáns und Trumps nur aus vollem Herzen verachten. Polnische Verwandte, die sich einem mythischen Kulturkampf um nationale Reinheit verschrieben hatten, waren mir fremd geworden. Eine modische, weit weniger gefährliche, sich progressiv gebende Radikalkritik an der Aufklärung aber, die sich einseitig auf ihre Schattenseiten konzentrierte, erschien mir als schwer verständliches friendly fire. Denn was anderes galt es jetzt zu verteidigen, als den letzten Hort der Freiheit, diese niemals perfekte, aber beste aller möglichen Welten: den Westen." Friendly fire - das bedeutet im Militär, versehentlich von der eigenen Seite beschossen zu werden. Soboczynskis Buch endet mit einer Art Liebeserklärung an die Freiheit, die viele Deutsche viel zu gering schätzen - und sei es "die Freiheit, wider besseres Wissen behaupten zu können, man liege in Fesseln, während man in der besten aller möglichen Welten lebt, in einem Traumschloss".
Als Kind wanderte Adam Soboczynski von Polen nach Deutschland aus, also ins Paradies. "Traumland" erzählt so klug wie hochamüsant von einer Nation, die viel hat, vor allem: schlechte Laune.
In den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik auch in jenen Ländern, die man heute gern kollektiv als "globalen Süden" bezeichnet, hängen oft Poster, welche Deutschland als Postkartenidyll preisen: die verspielte Pracht von Neuschwanstein vor Bergen und weißblauem Himmel, das von fröhlichen Menschen durcheilte Brandenburger Tor und so fort. Gleichzeitig versuchen die Botschaftsangestellten, jene Menschen mehrheitlich fernzuhalten, die sich genau so ihr Traumland Deutschland vorstellen und nichts lieber täten, als sich mit Kind und Kegel dort niederzulassen, weit fort von den Nöten, Gefahren und Traumata des eigenen Landes. Und wenn Geflüchtete durch Wüsten und über Meere kommen und an der Küste von Lampedusa stranden, dann haben viele von ihnen ein Sehnsuchtsziel, das Deutschland heißt.
Genauso war es 1981 für die Familie Soboczynski, als sie ein paar Habseligkeiten in ein Taxi packte und die lange Reise nach Westen begann. Merkwürdigerweise und wie eine Verheißung war das Fahrzeug ein Mercedes, weltweit als Symbol des (west-)deutschen Wohlstands anerkannt; merkwürdig, da die Fahrt im polnischen Torun nahe Warschau begann: "Dass es ein Mercedes war, weißglänzend und lang, schien meinen Eltern bedeutsam, ein im Ostblock seltenes Auto, und weiß der Teufel, woher der Fahrer ihn hatte. Mein Vater sagte scherzhaft, wir seien sozusagen schon im Westen."
"Eine Welt, in der die Männer schon morgens so viel soffen, dass die Frauen sie aufs Feld prügeln mussten."
So beschreibt Adam Soboczynski den Aufbruch in das Traumland der Eltern, noch aus der Perspektive des Kindes. Die deutschen Wurzeln der Mutter erwiesen sich nun als Glück, sie erlaubten, was sonst jenseits des Eisernen Vorhangs undenkbar war: die legale Ausreise aus dem kommunistischen Block. In Warschau herrschte eine brutale Militärdiktatur, die eben erst den Danziger Aufstand der Gewerkschaft "Solidarność" niedergeworfen hatte, der Vater war schon 1970 bei einem Aufbegehren der Arbeiter gegen den angeblichen Arbeiterstaat dabeigewesen. Eine neue politische Eiszeit legte sich über das geplagte Land.
Was Marxismus-Leninismus, über den sich im Westen viele Intellektuelle die seltsamsten Illusionen machten, de facto bedeutete, darüber war sich die Familie Soboczynski so klar wie die Mehrheit der Polen. Es bedeutete Unfreiheit und Unterdrückung, es war "eine Welt, in der die Frauen mit vierzig schon aussahen wie heute Sechzigjährige, in der die Männer schon morgens so viel soffen, dass die Frauen sie aufs Feld prügeln mussten, und in der die verlogenen Priester ungefähr so machtvoll waren wie die verlogenen Parteisekretäre“.
Wie die Familie 1981 die Bundesrepublik erreichte und sich dort zurechtfand und integrierte, gut und durch harte Arbeit, ist das eine Thema von Soboczynskis Buch "Traumland". Sie durfte daran arbeiten, dass die nächste Generation es besser haben würde, sie tat das mit Hingabe und Erfolg. Der Autor ist Literaturchef der Zeit und dem Fernsehpublikum auch aus dem "Literarischen Quartett" bekannt, in dem er öfter zu sehen ist.
Eine unstatthafte Verklärung der neuen Heimat kann man ihm dabei nicht vorwerfen, denn bald wurde ihm eines klar: "Dass es, umgekehrt, ein Land sehr berechtigter, unendlicher Scham war, ein Land der Verbrecher und Mörder, von denen noch viele munter vor sich hin lebten. Ich wusste damals nicht, dass ich aus einem Land der Opfer in ein Land der Täter zog, aus einem Land des Stolzes in ein Land der Befangenheit."
Die eigentliche Geschichte von "Traumland" erschließt sich gerade vor dem Hintergrund der Nazivergangenheit anfangs eher en passant, dann immer deutlicher. Vereinfacht gesagt erzählt er von ganz normalen Menschen, seiner Familie, die das seltene Glück hatten, die Welten wechseln zu dürfen und in der besseren angekommen zu sein - und dabei erstaunt feststellten, dass viele Bewohner dieser Welt alles, was sie haben, für selbstverständlich halten, und alles, was sie nicht haben, zum Anlass eines beständigen Lamentos nehmen. Für sie ist das Glas grundsätzlich halb leer. Soboczynski betrachtet dieses Land mal von innen, mal von außen, er kennt beide Perspektiven, das macht den besonderen Reiz dieses ganz und gar wunderbar geschriebenen und klugen Buches aus.
Über die Franzosen sagt ein boshaftes Bonmot: Sie leben im Paradies auf Erden, sind aber die Einzigen auf dieser Erde, die das nicht verstehen. Lieber errichten sie Barrikaden und zünden das Stammlokal ihres Präsidenten an, weil sie nicht mehr ganz so früh in Rente gehen sollen. Der Verdruss an "denen da oben", "der Politik" oder gar "dem System" ist in Deutschland kaum geringer als in Frankreich, nur nicht so militant (Lenin soll ja gesagt haben: Deutsche Revolutionäre lösen eine Bahnsteigkarte, bevor sie den Bahnhof besetzen). Aber in Umfragen wachsen auch hier die Zweifel an der Demokratie, obwohl Deutschland, eine Nation, die alle Abgründe der Diktatur durchschritten hat, heute freier ist und mehr Teilhabe ermöglicht als je zuvor.
Manchmal führt diese Verdrossenheit zu den seltsamsten Kontrasten: Ein und dasselbe Staatswesen wird von rechter Seite bezichtigt, die Gesellschaft durch Massenmigration manipulieren zu wollen, während Linke von einem unheilbar rassistischen System sprechen. Woke Akademiker und irrlichternde Konservative liefern sich einen alle Elemente von westlichen Luxusproblemen tragenden Culture Clash, für den die USA ein tristes und beunruhigendes Vorbild sind. Und wem die gewählte Regierung nicht passt, der schreit im Bierzelt, man müsse "sich die Demokratie zurückholen".
Natürlich gibt es in einer Demokratie Sorgen, Fehler und Probleme, manche in olympischem Ausmaß. Aber eine Haltung greift um sich, die schon die Existenz von Fehlern und Problemen als Beleg dafür nimmt, wie verkommen und falsch die Republik und die Regierenden seien, statt die offene Gesellschaft als das zu begreifen, was sie ist: eine Einladung zur Mitgestaltung bei der Lösung.
Im Kontrast noch einmal ein Rückblick auf den Sozialismus und auf Polen, wo Soboczynski 1975 geboren wurde: "Gehungert wurde nicht, das ist eine Legende. Aber die Erniedrigung: wie Zootiere auf Fütterungszeiten zu warten. Und schon bald die bleierne Gewissheit, dass es nicht mehr besser werden würde."
Das weltanschauliche Selbstmitleid begleitet diese Republik seit Jahrzehnten
Adam Soboczynski beschreibt dieses Deutschland, erst das westliche, dann das vereinte, mit Sympathie und Dankbarkeit, aber auch wie ein Entdeckungsreisender des 19. Jahrhunderts voller Staunen über ein faszinierendes Wunderland, dessen Einwohner den rätselhaftesten Sitten nachhängen. Zu ihren merkwürdigsten Eigenschaften gehört eine sorgfältig gepflegte, politische Milieus und Deutungsmuster mühelos überspringende üble Laune und Unzufriedenheit.
Soboczynskis Reise führt ins Herz des deutschen Grants, was so amüsant wie tiefsinnig ist - und auch ein wenig beruhigend, weil es in Erinnerung ruft, dass der Unwille zur Gelassenheit, der Verdruss an Politik und "Eliten" und das weltanschauliche Selbstmitleid die Republik seit Jahrzehnten begleiten und sie all das ertragen hat wie ein zuverlässiger Lastesel. Und je mehr man "Traumland" liest, desto stärker wird der Eindruck: Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas, für den es viele seiner Bürger halten - aber weil sie das tun, ist es auf jeden Fall einer der ganz großen Hypochonder Europas.
Und so führt der Autor den Leser durch die Achtziger des ungeliebten Helmut Kohl (in der Schule wurde geklagt, dass man in einem "spießbürgerlichen Land lebt, das von einem besonders unattraktiven und besonders dicken Kanzler regiert wird, der gewählt worden ist, um für immer zu bleiben"), in das Nachwendeberlin, in die Szeneviertel des Westens ("Als die Mauer fiel, war man in Kreuzberg besonders schlecht gelaunt. Jetzt wurde man gestört und aufgescheucht.") und in den Prenzlauer Berg, bevor der Tsunami der Gentrifizierung das Viertel traf ("Die Nachbarn schwer wendegeschädigt und aus Prinzip wortkarg. Der Hauswart ... reparierte alles, aber mit Hass.").
Als neueste Variante des ewigen deutschen Lamentos empfindet der Autor die Wokeness, die erwartungsgemäß wenig Gnade in seinen Augen findet. Das mag etwas ungerecht sein, denn die bizarren Beispiele für politische Überkorrektheiten, über die sich dann die halbe Republik aufregt oder erheitert, sind ja eher der närrische Rand einer Reformbewegung, die durchaus einen Punkt hat.
Andererseits hat Adam Soboczynski ebenfalls einen mit der sehr nachvollziehbaren Frage, ob ausgerechnet eine Bewegung, die für mehr Achtsamkeit und Gleichberechtigung eintritt, die größte Bedrohung für solche Werte gar nicht wirklich wahrnimmt, nämlich die Gefahr von rechts: "Ich war einst von einem geknechteten Land ins Paradies gezogen und konnte den Aufstieg Putins und der AfD, Orbáns und Trumps nur aus vollem Herzen verachten. Polnische Verwandte, die sich einem mythischen Kulturkampf um nationale Reinheit verschrieben hatten, waren mir fremd geworden. Eine modische, weit weniger gefährliche, sich progressiv gebende Radikalkritik an der Aufklärung aber, die sich einseitig auf ihre Schattenseiten konzentrierte, erschien mir als schwer verständliches friendly fire. Denn was anderes galt es jetzt zu verteidigen, als den letzten Hort der Freiheit, diese niemals perfekte, aber beste aller möglichen Welten: den Westen."
Friendly fire - das bedeutet im Militär, versehentlich von der eigenen Seite beschossen zu werden. Soboczynskis Buch endet mit einer Art Liebeserklärung an die Freiheit, die viele Deutsche viel zu gering schätzen - und sei es "die Freiheit, wider besseres Wissen behaupten zu können, man liege in Fesseln, während man in der besten aller möglichen Welten lebt, in einem Traumschloss".
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