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Regieren in Zeiten des Krieges - Rezensiert in der SZ von Florian Keisinger
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Der Journalist Stephan Lamby ist Spezialist für TV-Dokus aus dem inneren Berliner Politzirkel. Seit dem Amtsantritt der Ampel-Koalition war er wieder ganz nah dran an den Mächtigen und nicht so Mächtigen - und wenige Monate später war plötzlich Krieg in Europa. "Ernstfall" gibt es als Film (11.9., ARD) und als Buch. Stets gut informiert und vernetzt, weiß Lamby allerlei Details zu berichten und analysiert die Regierung zwischen Krisenmodus und Zeitenwende auf eingängige Weise. Das alles ist hochspannend und anekdotenreich - doch die Nähe zu Robert Habeck gibt dem wichtigsten Ampel-Buch des Jahres eine leicht peinliche politische Schlagseite.
Der Journalist Stephan Lamby wollte eigentlich die Ampel beim Regieren beobachten, ganz nah dran wie immer. Dann kam der Krieg. "Ernstfall" ist hoch spannend, voller Details und Anekdoten - aber es hat eine deutliche politische Schlagseite.
Der Journalist und TV-Produzent Stephan Lamby hat die Bundesregierung von ihrem Antritt im Dezember 2021 bis zum Nato-Gipfel in Vilnius Mitte Juli 2023 aus der Nähe beobachtet. Er hat sowohl den Kanzler als auch die wichtigsten Ministerinnen und Minister regelmäßig befragt und auf ihren Reisen rund um den Erdball begleitet. Beabsichtigt war ein Porträt der Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen, die sich daran macht, dem Land eine liberale und klimagerechte Fortschrittsagenda zu verpassen. Es wäre die nahtlose Fortsetzung von Lambys vorangegangenem Buch gewesen, "Entscheidungstage" (C.H. Beck 2021), das methodisch gleichermaßen angelegt den Dreikampf ums Kanzleramt zwischen Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet im Bundestagswahlkampf 2021 zum Thema hatte.
Dass "Ernstfall" letztlich ein sehr anderes Buch geworden ist, als Lamby sich das Ende 2021 ausgemalt haben dürfte, ist natürlich dem russischen Überfall auf die Ukraine geschuldet. Statt sich eingehend mit Karl Lauterbach über die Folgen der Pandemie auszutauschen, standen seit dem 24. Februar 2022, dem Tag des Kriegsbeginns, abrupt Themen wie Energiesicherheit, Sanktionen und Waffenlieferungen auf der Agenda. Keine Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik dürfte je vor größeren politischen Herausforderungen gestanden haben als das Kabinett Scholz gerade einmal zweieinhalb Monate nach seiner Konstituierung; und Lamby war ganz dicht dran am Geschehen.
Der BND-Chef wurde in Kiew vom Krieg überrascht
Lamby geht chronologisch vor, detailliert schildert er die Vorgeschichte des Krieges. Dabei wird einmal mehr deutlich, wie sehr vor allem die Europäer vom Agieren Putins überfahren wurden. Trotz Krim-Annexion und jahrelanger hybrider Kriegsführung in der Ostukraine, einen offenen militärischen Angriff Russlands auf einen souveränen europäischen Staat hielt man sowohl in Berlin als auch in Paris bis zuletzt für undenkbar. Was exemplarisch die von Lamby detailliert protokollierte Kiew-Reise des BND-Präsidenten Bruno Kahl am 23. Februar 2022 und dessen hektische Evakuierung am Folgetag illustriert. Die amerikanische Seite war hier durchweg besser und früher im Bilde.
Wenngleich Lamby in der Sache überwiegend Bekanntes referiert, lohnt sich die Lektüre. Beispielsweise erfährt man Näheres zum Inhalt des Dossiers, mit welchem Wirtschaftsminister Robert Habeck von Mitarbeitern der US-Botschaft über die unmittelbar bevorstehenden Kampfhandlungen informiert wurde; ein untrügliches Indiz war das Auftauchen russischer Blutkonserven an der Frontlinie. Generell liegt der Neuigkeitswert des Buches eher in den Details als in der Darlegung der langen Linien. Dass es mitunter auch zu skurrilen Szenen kam, belegt ein Anruf des russischen Botschafters in Berlin bei Scholz-Berater Jörg Kukies kurz vor Kriegsausbruch, bei dem die Möglichkeit einer deutschen Unterstützung der russischen Expo-Bewerbung 2030 ausgelotet werden sollte.
Der Kriegsbeginn bedeutete eine Zäsur für die deutsche Politik. Mit Lamby darf man Scholz und seinem Stab dabei über die Schulter blicken, wie um die Formulierungen der "Zeitenwende"-Rede gerungen wurde, die der Kanzler am 27. Februar 2022 im Bundestag vortrug. Während die Sanktionen gegen Russland und die Waffenlieferungen an die Ukraine zwischen den Koalitionsparteien abgestimmt waren, fiel die Entscheidung, Deutschland durch Aufrüstung der Bundeswehr wieder zu einer Militärmacht von Weltgeltung zu machen, im engsten Regierungskreis; selbst Lamby ist sich nicht sicher, wer außer Finanzminister Christian Lindner von Scholz überhaupt vorab informiert wurde.
Querelen und Streitereien ohne Ende
Die Neuausrichtung der Sicherheitspolitik gerät im Weiteren etwas in den Hintergrund, was auch damit zusammenhängen mag, dass die zum damaligen Zeitpunkt formal für das Thema zuständige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht politisch keine Rolle spielte. Das ist bedauerlich, denn gerade bei diesem historisch bedingt hochsensiblen Thema wären tiefere Einblicke in die politischen Entwicklungszusammenhänge interessant gewesen.
Stattdessen richtet Lamby die Aufmerksamkeit auf die Wirtschafts- und Energiepolitik. Obwohl man sich politisch aufgrund drohender Gas- und Ölknappheit rasch auf den Grundsatz verständigte, die Versorgungssicherheit der privaten Haushalte und Unternehmen über den Klimaschutz zu stellen, führten die Detailregelungen vor allem zwischen Grünen und FDP zu heftigen Konflikten, bei der Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke, dem Tankrabatt oder auch jüngst beim Heizungsgesetz. Mehrfach bedurfte es ein Machtwort des Kanzlers, um den Fortbestand der Koalition sicherzustellen. Souverän zeichnet Lamby die zahlreichen innenpolitischen Querelen nach und verknüpft sie obendrein mit wahltaktischen Erwägungen in den jeweiligen Parteien, ohne jedoch dabei die darüberliegenden Zusammenhänge des Krieges aus dem Auge zu verlieren.
Der eine wie Joschka Fischer, der andere nur "Playback"
Lambys Sympathien, das wird bei der Lektüre offenkundig, liegen bei Habeck. Dabei überspannt er den Bogen bisweilen, etwa, wenn er konstatiert, mit Habeck habe die deutsche Politik 17 Jahre nach Joschka Fischer "wieder einen echten Live-Rock'n'Roller" (dagegen sei Scholz "Playback"). Derlei unnötige Lobhudelei schadet der Glaubwürdigkeit und ist, nebenbei, Indiz dafür, woher ein überproportionaler Anteil der zugetragenen Informationen stammen dürfte. Lamby nimmt Habeck vor Angriffen von Lindner und "fanatischen" FDP-Anhängern ebenso in Schutz wie vor Sticheleien aus den eigenen Grünen-Reihen, allen voran von Außenministerin Annalena Baerbock, deren Gesprächsverweigerung in Richtung Russland und belehrendes Auftreten gegenüber China er für diplomatisch falsch hält. Stabilitätsanker der deutschen Außenpolitik ist für Lamby der Kanzler.
Trotz der sowohl inhaltlichen als auch politischen Schlagseiten ist Stephan Lamby mit "Ernstfall" unterm Strich ein informatives und streckenweise hochspannendes Buch gelungen, das eines Tages auch für Historikerinnen und Historiker relevant sein wird, die sich mit der innenpolitischen Gemengelage der deutschen "Zeitenwende" im Zuge des russisch-ukrainischen Krieges befassen.
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