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Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie - Rezensiert in der SZ von Andrian Kreye
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Youtube, Hip-Hop und Marina Abramovićs Kunstperformances kommen einem nicht zwingend in den Sinn, wenn man sich mit der Suche nach Spiritualität in der Ekstase beschäftigt. Rockmusik schon eher. Die Welle der Neo-Psychedelik mit ihren Selbsterfahrungsbeschleunigern wie Magic Mushrooms, Ayahuasca-Zeremonien und Schamanen sowieso. Aber genau dieser Horizont ist die Stärke des Buches "Ekstasen der Gegenwart", das die Sehnsucht nach Erlösung im Rausch in einen erstaunlich tiefen historischen Kontext setzt. Denn es gibt eben dieses Grundbedürfnis der Menschen nach Entgrenzungen, das sie in der Gegenwart in den unzähligen Subkulturen und Praktiken suchen. In den sanften Ausformungen gehört da Yoga genauso dazu wie die Suche nach dem "Flow"-Zustand in der Arbeit. Und auch Youtube und soziale Medien bedienen diese Mechanismen, wenn sie den Geist in die Tiefen eines sogenannten "Kaninchenbaus" ziehen. Leicht liest sich das alles nicht, die Dichte, mit der die beiden Autoren ihr Wissen vermitteln, ist enorm. Das ist auch der Grund, warum "Ekstasen der Gegenwart" nicht nur ein Buch zu einer Debatte ist, die gerade erst anläuft. Hanske und Sarreiter liefern keine Argumente, sondern ein Wissensfundament, auf dem man die eigenen Argumente aufbauen kann. Denn wie das alles ausgeht, ist keineswegs abzusehen.
Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter haben zur Psychedelik -Welle ein Buch über die Geschichte der Ekstase geschrieben, das das Potenzial zum Standardwerk hat.
YouTube, Hip-Hop und Marina Marina Abramovićs Kunstperformances kommen einem nicht zwingend in den Sinn, wenn man sich mit der Suche nach Spiritualität in der Ekstase beschäftigt. Rockmusik schon eher. Die Welle der Neo-Psychedelik mit ihren Selbsterfahrungsbeschleunigern wie Magic Mushrooms, Ayahuasca-Zeremonien und Schamanen sowieso. Aber genau dieser Horizont ist die Stärke des Buches "Ekstasen der Gegenwart", das die Sehnsucht nach Erlösungsmechanismen im Rausch in einen erstaunlich tiefen historischen Kontext setzt.
Vor acht Jahren veröffentlichten Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter schon einmal ein Buch zum Thema. In "Neues von der anderen Seite - die Wiederentdeckung des Psychedelischen" ging es vor allem um LSD, Psylocibin und all die anderen Dingen, die ein menschliches Gehirn in Zustände versetzen können, die ihm sonst verschlossen bleiben. Stichwort eins-mit-dem-Universum-sein. Im besten Falle bleiben Euphorie und Dankbarkeit, im schlimmsten die Psychose.
Sind die Ekstasen Scharlatanerie oder Aufbruch in eine neue Ära der Psychotherapie?
Damals waren sie ihrer Zeit noch voraus. Erst in den vergangenen vier, fünf Jahren ist aus der Subkultur der Psychedelik eine Branche geworden. Über 60 Firmen sind schon an der Börse, die solche Präparate herstellen. Oder herstellen wollen. Die Rechtsprechung ist in den meisten Ländern noch nicht bereit, die Therapie oder gar die Selbstoptimierung, geschweige denn das Freizeitvergnügen mit Substanzen zu erlauben, die auf den Verbotslisten ganz oben als "Drogen ohne derzeit anerkannten medizinischen Nutzen und mit hohem Missbrauchspotenzial" geführt werden.
Schon einmal ist der Versuch gescheitert, die Heilwirkungen der Ekstase zu ergründen. In den Sechzigern gab der Psychologiedozent Timothy Leary nach seinen LSD- und Psylocibin-Experimenten an der Harvard University die Losung aus "Turn on, tune in, drop out" (zu Deutsch in etwa "Reinpfeifen, einklinken, aussteigen"). Das aber wurde sowohl von der Hippiebewegung als auch vom Bürgertum als Kampfruf zur Gesellschaftsveränderung verstanden. Und das Bürgertum wusste die Veränderung des Status Quo schon immer zu bekämpfen. LSD wurde ab 1966 in Amerika, ein Jahr später auch in Deutschland verboten. Leary stieg erst zum Star der Gegenkulturen auf, wurde dann von den Behörden rund um den Erdball verfolgt und landete im Gefängnis. Von Learys schillernder Laufbahn vom Akademiker zum Staatsfeind mal abgesehen, war das aber auch das Ende jeder Diskussion um Nutzen und Heilkraft solcher Präparate.
"Ekstasen der Gegenwart" ist allerdings kein Debattenbuch. Mit dem Bogen vom antiken Griechenland und seinem Ekstase-Gott Dionysos bis zur Spiegelung des Opioid-Rausches in den Beats der Trap Music des amerikanischen Südens liefern die beiden eine Bestandsaufnahme eines großen Menschheitsthemas. Da ist die "große Ausnüchterung" in den Enthaltsamkeitsdogmen der westlichen Kultur. Die Immersions-Mechanismen der Kirchen. Die "Entgleisung als fester Bestandteil der abendländischen Feierkultur". Die Prohibitions-Wellen der Moderne mit ihrem tödlichen "War on Drugs". All das macht aus ihrer Kritik an den Lifestyle-Ekstasen der Gegenwart letztlich eine Analyse.
Im wirklichen Leben sind diese neuen Ekstasen schon ein Treppenwitz. In der Fernsehserie "Billions" gibt es einen exemplarischen Handlungsstrang, in dem sich die beiden titelgebenden Milliardäre in Schwitzhütten und Klausurwochenenden einen Wettstreit liefern, wer denn die heftigsten psychedelischen Erfahrungen mit dem Miet-Schamanen erleben kann. Die Szene, in der sich der Superinvestor Bobby Axelrod in der Wildnis am Lagerfeuer mit dem Ayahuasca-Trank des Schamanen in Ekstase steigert, ist eine der lustigsten Szenen der Serie. "Ich bin ein Monster!", ist da der Gipfel seiner Selbsterkenntnis. Da ist kein Funken Reue, sondern der Stolz, im System der Hedge Fonds und Aktienmärkte seinen Platz am allerobersten Ende der Nahrungskette und damit das Raub- als Totemtier gefunden zu haben.
Ob es nun ein böses Ende nehmen wird, dass Investoren wie Peter Thiel und Christian Angermayer die Präparate für die Ekstase nicht nur synthetisch herstellen, sondern auch patentieren lassen, spielt auch im Buch eine Rolle. Meinungen haben Hanske und Sarreiter sehr wohl. Gegen Ende unterscheiden sie beispielsweise zwischen den traditionellen Ausnahmezuständen, in denen die Ekstatiker im Jenseits Zwecke für das Diesseits verfolgten. Was in der durchsäkularisierten Gegenwart der freien Marktwirtschaft keine Rolle mehr spielt.
Da werden Drogen zu Werkzeugen. "Gemäß dem Zeitgeist suchen die zeitgenössischen westlichen Tool-Ekstatiker nicht danach, jenseitige Kräfte zu beeinflussen", schreiben Hanske/Sarreiter. "Ihnen stehen Ekstasen heute als Mittel der Selbstoptimierung zur Verfügung. Jede Zeit hat nun einmal ihre spezifischen Ekstasen." Sie drücken sich da nicht um Wertungen. "Wenn wir hier ein Plädoyer für die anderen, die autonomen, im eigentlichen Sinn zweckfreien Ekstasen aussprechen, hat das zwei Gründe", heißt es da weiter. Die Egomanie der Selbstoptimierung stehe zum einen im Widerspruch zur Ich-Auflösung der Ekstase. Zum andere werde aus der Ekstase in diesem Kontext ein neoliberales Wettrennen um knapper werdende Mittel und Ressourcen.
Yoga, Youtube und der "Flow" beim Arbeiten greifen auf die gleichen Mechanismen zurück
Aber es gibt eben auch das Grundbedürfnis der Menschen nach diesen Entgrenzungen, das sie in der Gegenwart in den unzähligen Subkulturen und Praktiken suchen. In den sanften Ausformungen gehört da Yoga genauso dazu, wie die Suche nach dem "Flow"-Zustand in der Arbeit. Und auch Youtube und soziale Medien bedienen diese Mechanismen, wenn sie den Geist in die Tiefen eines sogenannten "Kaninchenbaus" ziehen, wie die Sogwirkung solcher digitalen Plattformen so niedlich genannt wird. In direkter Anspielung auf "Alice im Wunderland", Lewis Carrolls Roman von 1865, den die Hippiebewegung als eindeutige Parabel zu den Ausnahmezuständen eines psychedelischen Rausches mit all seinen Erkenntnismomenten sah. Und auch Marina Abramović passt in das Muster, wenn sie Rituale aus der Spiritualität in Performances verwandelt, die dem Kunstpublikum Erlebnisse verschaffen, die sie zwingen, ihre Rolle als überkultivierte Betrachter aufzugeben.
Leicht liest sich das alles nicht. Die Dichte, mit der die beiden ihr Wissen vermitteln ist enorm. Das aber ist auch der Grund, warum "Ekstasen der Gegenwart" nicht nur ein Buch zu einer Debatte ist, die gerade erst anläuft. Hanske und Sarreiter liefern keine Argumente, sondern ein Wissensfundament, auf dem man die eigenen Argumente aufbauen kann. Denn wie das alles ausgeht, ist keineswegs abzusehen.
Sind die Ekstasen der Gegenwart nur neoliberale Scharlatanerie? Oder eben doch ein Aufbruch in eine neue Ära der Psychotherapie, die in den Sechzigerjahren an den Prohibitionsgesetzen scheiterte? Wo liegen die Wurzeln der Ekstase in den Menschen und ihrer Gesellschaft? Wo sind die Grenzen des Eskapismus, an denen die Verheerungen der Selbstmedikation und Suchtkrankheiten solche Debatten beenden? So gesehen ist "Ekstasen der Gegenwart" ein Standardwerk, das jeder lesen sollte, der sich mit dem Thema auseinandersetzt. Und dann wahrscheinlich auch darüber streitet.
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