Entdecken Sie die neue Herbstedition 2023 in der Vinothek >>
Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo - Rezensiert in der SZ von Nicolas Freund
[{"variant_id":"44454894993675" , "metafield_value":""}]
Wie umgehen mit einer Geschichte, die von Phasen exzessiven Terrors geprägt war? Kann es eine Aufarbeitung der Vergangenheit geben, wenn als einzige Institution der Geheimdienst den Zusammenbruch der Sowjetunion überdauert hat?
Nikolai Epplée umreißt in seinem fesselnden Buch die Unterdrückungsmethoden der Sowjetherrschaft von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod und die anschließenden Versuche, ihre Opfer zu rehabilitieren. Eine »Versöhnung« von oben spricht die Bürger von Schuld und Verantwortung frei, während Initiativen von unten, wie die im Dezember 2021 verbotene Menschenrechtsgesellschaft Memorial, Millionen von Toten ihre Namen zurückgeben. Vergleichend blickt er auf Länder wie Argentinien, Deutschland, Japan, Polen, Spanien und Südafrika. Ob Schlussstrich, juristische Aufarbeitung oder Wahrheitskommissionen - was lässt sich daraus lernen?
Ein Buch aus Russland über nicht aufgearbeitete Staatsverbrechen der Stalinzeit - und zwar aus dem Jahr 2020? Nikolai Epplées Buch, nun auf Deutsch erschienen, ist eine kleine Sensation. Was hier herausgearbeitet wird, ist Grundsätzliches zum Umgang ganzer Gesellschaften mit Verbrechen und Traumata. Weite Teile des Buches lesen sich wie ein Psychogramm Russlands der Gegenwart. Doch die Analyse weist über die Realität des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hinaus. Es geht auch um die Zukunft, in der sich die russische Zivilgesellschaft den Verbrechen stellen muss, die nicht nur unter der Herrschaft Stalins, sondern nun auch ganz aktuell in ihrem Namen in der Ukraine verübt werden.
Der russische Philologe Nikolai Epplée untersucht die nie aufgearbeiteten Staatsverbrechen Stalins. Doch seine brillante Analyse weist weit darüber hinaus, sie ist ein unverzichtbarer Kommentar zur aktuellen Situation der russischen Gesellschaft.
Wahrscheinlich wird man erst in ein paar Jahren erfassen, nicht nur, wie erstaunlich es ist, dass ein solches Buch derzeit aus Russland kommt, sondern auch, wie wichtig es ist. Nikolai Epplées umfangreiche Untersuchung zum Umgang mit Staatsverbrechen erschien im russischen Original bereits 2020. Die deutsche Erstausgabe wirkt nun, drei Jahre später, nicht nur, als wäre sie für die Gegenwart des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, sondern bereits für eine Zukunft geschrieben worden, in der sich die russische Zivilgesellschaft den unaufgearbeiteten Verbrechen stellen muss, die nicht nur unter der Herrschaft Stalins, sondern nun auch ganz aktuell in ihrem Namen in der Ukraine verübt werden.
Diese Frage mag angesichts des Leids der ukrainischen Bevölkerung noch nachrangig erscheinen. Aber in der Ukraine wird bereits in fast 100 000 Fällen möglicher Kriegsverbrechen durch die russische Armee ermittelt. Und auch in Russland wird es den Menschen irgendwann klar werden, dass man nicht nur das Nachbarland mit Terror überzogen, sondern auch die eigenen Landsleute zu Tausenden in den Tod geschickt hat.
Dass dieses Buch, abgesehen von einem neuen Vorwort, vor dem Epochenbruch dieses Krieges geschrieben wurde, tut der Aktualität dabei keinen Abbruch. Epplées Dokumentationen und Analysen weisen weit über die geschilderten Beispiele des stalinistischen Terrors und anderer Staatsverbrechen hinaus. Was hier herausgearbeitet wird, ist Grundsätzliches zum Umgang ganzer Gesellschaften mit Verbrechen und Traumata. "Die unbequeme Vergangenheit" könnte in seiner Fülle an Fakten und in seinen klaren Analysen durchaus ein Standardwerk zu dem Thema werden.
Der Philologe Epplée hat sich für die Darstellung des sehr breiten Themas für eine Art dialektischen Ansatz entschieden: Ausgehend von der Darstellung der Staatsverbrechen unter Stalin und ihrer größtenteils ausgebliebenen Aufarbeitung in der Sowjetunion und den Jahrzehnten danach, wendet er im zweiten Teil des Buches den Blick auf andere Nationen. An ihren Beispielen zeigt er verschiedene Ansätze, wie mit Staatsverbrechen umgegangen wurde. Im letzten Kapitel wagt er dann eine Synthese und liefert eine Anleitung, wie im besonderen Falle Russlands mit den Schrecken der Vergangenheit umzugehen ist.
Der erste Teil liest sich dabei auch wie ein Psychogramm Russlands der Gegenwart, einer Nation, die zum einen von der Vergangenheit besessen ist und sich dieser aber gleichzeitig nicht richtig stellen möchte. Epplée kommt dabei im Laufe des Buches immer wieder auf das Bild des Gespensts oder der wiederkehrenden Toten zurück: "Während des Großen Terrors [unter Stalin] wurden im NKWD-Gefängnis von Kolpaschewo rund 4000 Menschen erschossen und in der Nähe des Ufers verscharrt. Die Anwohner wussten davon nichts oder wollten nichts wissen, bis in der Nacht zum 1. Mai 1979 (...) die Fluten (...) das Ufergelände mitrissen und das Massengrab freispülten." Fieberhaft wurde versucht, die Leichen im Fluss und am Ufer mit allen Mitteln wieder verschwinden zu lassen. Aber es zeigt sich auch an vielen der anderen Beispiele Epplées: Die Verbrechen der Vergangenheit kommen immer wieder. Langfristig gibt es für eine gesunde Gesellschaft gar keine Alternative zur Aufarbeitung.
Erste Versuche dazu gab es dabei in Russland durchaus, wie zum Beispiel durch die Organisation Memorial, die aber Ende 2021 verboten wurde. Schon allein das gibt eine Ahnung davon, wie groß in Russland derzeit der Widerstand gegen eine offene Auseinandersetzung mit den eigenen Verfehlungen sein muss. Epplée beschönigt nichts, wenn er schreibt, dass ein großer Teil der russischen "Gesellschaft nicht in der Lage ist, sich im sozialen Leben an Werten zu orientieren". Darin steckt auch wenigstens der Teil einer Erklärung für das kriegerische und nach wie vor dem Kreml treue Russland der Gegenwart: "Wo es keine Überzeugungen und Werte gibt, bleibt vielen nur eines übrig - die Macht zu unterstützen, ganz gleich, ob sie nun die helle oder die dunkle Seite repräsentiert."
Fragen der erwachsenen Erzählerin an die Mutter werden sogar beantwortet
Für Antworten auf die Frage, wie es anders sein könnte, widmet Epplée Argentinien, Spanien, Südafrika, Polen, Deutschland und Japan je ein Kapitel mit einem historischen Abriss und einer Analyse der jeweils sehr unterschiedlichen (teilweisen) Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Nicht alles ist sinnvoll mit der Situation in Russland vergleichbar, aber das Panorama dieses Ansatzes zeigt, wie konstitutiv der offene Umgang mit der Vergangenheit für Nationalstaaten und ihre Gesellschaften ist. Dazu gibt Epplée auch viele Beispiele aus Literatur, bildender Kunst und Film, für Südafrika zum Beispiel die Romane J. M. Coetzees, für Deutschland die Reden Thomas Manns oder für Japan sowohl nationalistische als auch kritische Manga-Comics. Das sind nicht nur Illustrationen zu den politischen Fakten. Gerade die kulturelle Auseinandersetzung mit Staatsverbrechen ist, wie die Fülle dieser Beispiele schon zeigt, zentral für eine breite soziale Auseinandersetzung mit Verdrängtem oder Vergessenem. In Deutschland zum Beispiel spielte die 1979 ausgestrahlte Serie "Holocaust" eine solche Rolle.
Im letzten Teil des Buches räumt Epplée mit einigen Mythen, Vorurteilen und Klischees auf, die immer genannt werden, wenn eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht stattfinden soll. So betont er, dass die durchaus liebevolle Erinnerung an Vorfahren nicht ausschließt, dass auch Verbrechen benannt und verarbeitet werden, die von dieser Generation oder vielleicht sogar von den eigenen Großeltern begangen wurden. Auch wenn das natürlich nicht einfach ist, aber: "Das Wachhalten dieser Erinnerung gehört sogar unabweislich zur Verantwortung derer, die verwandtschaftliche Beziehungen zu den dunklen Seiten der Geschichte haben."
Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass es so etwas wie eine Generationenschuld gibt. Die Nachkommen tragen Verantwortung für die Erinnerung und das Aufarbeiten vergangener Verbrechen, sie sind aber nicht für diese verantwortlich. Denn wenn keine Einigung auf eine gemeinsame Vergangenheit gelingt, droht die Spaltung in Parallelgesellschaften, die ihre je eigene Vergangenheit pflegen. Auch deshalb ist die Aufarbeitung und Erinnerung an die dunklen Seiten der Vergangenheit nie abgeschlossen, sondern ein konstanter Prozess. Und darin ist dieses so wichtige wie präzise argumentierende und umfassend recherchierte Buch auch für Leser in Deutschland noch einmal unmittelbar relevant.
Geben Sie einfach Ihre Daten ein und abonnieren Sie kostenlos den SZ Shop Newsletter.
Entdecken Sie vor allen anderen...
✓ aktuelle Aktionen & Angebote✓ interessante Produktneuheiten✓ Geschenkideen für jeden Anlass