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Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen - Rezensiert in der SZ von Gökalp Babayiğit
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Can Dündar, in der Türkei als »Terrorist« gesucht und in Abwesenheit zu über 27 Jahren Haft verurteilt, erzählt mit präzisem Blick auf die letzten Jahrzehnte und die Ereignisse um die Schicksalswahl im Mai 2023 vom hundertjährigen Ringen der Türkischen Republik um eine freie Gesellschaft. Kaum ein Jahr ist für diesen wichtigen Partner Europas so existenziell wie dieses!
100 Jahre ist es her, da zerfiel das marode Osmanische Reich und die Türkische Republik wurde gegründet. Diese wollte ein radikal moderner Staat werden: mit Übernahme europäischer Rechtssysteme, europäischem Kalender, lateinischer Schrift, freien Wahlen, Gleichstellung der Geschlechter, Gewaltenteilung und und und - ein Programm, moderner und säkularer als fast überall sonst auf der Welt. Die Brücke nach Europa wurde geschlagen, und die Anstifter dieser Entwicklung waren nicht etwa fortschrittliche Parteien, sondern das Militär. 1952 wurde die Türkei Teil der Nato, aber ausgerechnet die Einführung eines Mehrparteiensystems gab den islamistisch-konservativen Kräften Auftrieb, zwischenzeitlich gab es Putsche, Parteienverbote, Kriegsrecht.
Als Erdogan 2013 Ministerpräsident wurde, wollte er das Land zwar in die EU führen, aber nachdem seine Partei mächtig geworden war, nahm der Staat unter ihm immer autokratischere Züge an. Die Opposition wurde in die Enge getrieben, jedes kritische Denken abgestraft. Erdogans Regierung intensivierte die Unterdrückung der Kurden, führte Krieg in Syrien und im Irak. Sie änderte die Verfassung, nahm Wirtschaft und Justiz an die Leine, ließ Kritiker und Oppositionsparteien verbieten. Niemand ist vor Verhaftung gefeit, die Vorwände können noch so bizarr sein. Vor und nach der Wahl ist das Land zerrissen wie nie zuvor.
Can Dündar erzählt davon, und von einem Jahrhundert dramatischer Ereignisse und des Ringens. Und er gibt einen Ausblick, wie es mit dem Land weitergehen könnte.
Vollständige Rezension anzeigen Türkisches Tauziehen Der Journalist Can Dündar zeichnet akribisch das Bild eines gespaltenen Landes - indem er bis zur Staatsgründung vor 100 Jahren zurückblickt. Nur ein Mann passt nicht zu den Gesetzmäßigkeiten, die seit Atatürk galten. 15 Wahlen in 21 Jahren hatte er schon gewonnen - doch diesmal führten seine Widersacher in den Umfragen mit einem solch großen Vorsprung, dass auch unter den erfahrensten (und mithin pessimistischsten) Beobachtern so etwas wie Hoffnung aufkeimte: die Hoffnung, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach zwei Jahrzehnten an der Macht die Wahl am 23. Mai 2023 tatsächlich verlieren könnte. Es kam anders, und wieso es anders kam, darauf bekam jeder Zeitungsleser nach der Wahl mehrere Antworten präsentiert. Erdoğans Repressionsapparat, der eine kritische Presse mundtot gemacht und vielversprechende Oppositionelle ins Gefängnis geworfen hat; der unheilvolle Cocktail aus politischem Islam und Nationalismus, der vor allem der ländlichen Bevölkerung immer noch am besten schmeckt; der Führerkult um den "starken Mann" an der Spitze, dem als Einzigem die Lösung aller noch so massiven Probleme des Landes zugetraut wird; der fehlende Druck aus dem Westen, der in dem türkischen Präsidenten einen nützlichen Autokraten sieht, wie das Flüchtlingsabkommen beweist. Dem ehemaligen Chefredakteur droht Gefängnis Can Dündar, einer der renommiertesten Journalisten der Türkei und damit wie selbstverständlich ein Feind und Verräter in Erdoğans Augen, holt für die Beantwortung dieser Frage in seinem Buch "Die rissige Brücke über den Bosporus" weiter aus und geht bis zur Geburtsstunde der Türkei zurück: Der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, der in Berlin lebt, weil ihm in der Türkei Gefängnis und Schlimmeres drohen, nimmt den nahenden 100. Geburtstag der türkischen Republik zum Anlass, um konzise auf etwa 220 Seiten die ganz großen Zusammenhänge in einem progressiven und reaktionären, friedlichen und blutigen, hoffnungsfrohen und hoffnungslosen Jahrhundert türkischer Geschichte darzustellen. Er zeigt dabei, dass die Ursprünge heutiger Konflikte und Spannungen auf Ereignisse zurückzuführen sind, die sich bereits in Staatengründer Mustafa Kemal Atatürks Ära zugetragen haben. Den Autor Çetin Altan zitierend schildert Dündar, wie die türkische Demokratie einer Schaukel gleich zwischen Kaserne und Moschee hin- und herpendelt. Schon die für damalige Verhältnisse höchst progressive Agenda Atatürks sah sich mit einer islamisch-reaktionären Gegenbewegung konfrontiert, blutige Niederschlagungen und Zusammenstöße waren die Folge - wie so viele Male in den hundert Jahren türkischer Geschichte. Angriffe auf ethnische oder religiöse Minderheiten sowie Attentate auf Ministerpräsidenten, politische Gegner, Intellektuelle und Journalisten waren und sind ein wiederkehrendes Element türkischer Politik. Dündar spricht in diesem Zusammenhang von einer alle zehn Jahre erfolgenden Zäsur - einem "Gezeitenszenario", bei dem "Militärinterventionen, Wahlen, Regierungen im Wechsel von zehn Jahren kamen und gingen" - bis Erdoğan die politische Bühne betrat und jahrzehntelang geltende Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzte. Die Knackpunkte: Kurdenfrage und Laizismus-Debatte Dündar zeichnet entlang akribisch eingeordneter Großereignisse das Bild eines gespaltenen Landes, das seit seinem Bestehen hin- und herwippt: zwischen konservativ und reformistisch, traditionell und modern, muslimisch und laizistisch, zwischen rechts und links. Ein Tauziehen, wie er es nennt, bei dem die "beiden immer noch nachwirkenden Traumata zum Vorschein" kämen. "Zum einen die Paranoia vor der Spaltung, zum anderen der Religionsstreit. Mit anderen Worten: die Kurdenfrage und die Laizismus-Debatte." Und Erdoğan? Der Mann, den Dündar als "Antithese zu den Thesen" bezeichnet, "die Atatürk bei der Transformation der Türkei aufstellte"? Unter dessen Herrschaft er (in Abwesenheit) zu mehr als 27 Jahren Haft verurteilt wurde, nur weil er als Journalist seiner Arbeit nachging? Dündar vermeidet es, seiner Verbitterung angesichts seines persönlichen Schicksals zu viel Raum zu geben. Vielmehr sind seine Analysen jener Phasen der türkischen Geschichte am stärksten, in denen er selbst recherchierte und aufdeckte, Zeuge und Angeklagter war: Dündar war es, der schon in den Neunzigerjahren über die Umtriebe des "tiefen Staats", Ergenekon genannt, berichtete. Er verfolgte den Machtkampf Erdoğans mit dem Militär und der Gülen-Bewegung sowie die Geschehnisse um den Putsch 2016 ganz nah. Und er war eines der Hauptangriffsziele der Regierung, als diese die freie Presse ins Visier nahm - im buchstäblichen Sinn: Einen Attentatsversuch im Mai 2016 überlebte er nur knapp.
Der Journalist Can Dündar zeichnet akribisch das Bild eines gespaltenen Landes - indem er bis zur Staatsgründung vor 100 Jahren zurückblickt. Nur ein Mann passt nicht zu den Gesetzmäßigkeiten, die seit Atatürk galten.
15 Wahlen in 21 Jahren hatte er schon gewonnen - doch diesmal führten seine Widersacher in den Umfragen mit einem solch großen Vorsprung, dass auch unter den erfahrensten (und mithin pessimistischsten) Beobachtern so etwas wie Hoffnung aufkeimte: die Hoffnung, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach zwei Jahrzehnten an der Macht die Wahl am 23. Mai 2023 tatsächlich verlieren könnte.
Es kam anders, und wieso es anders kam, darauf bekam jeder Zeitungsleser nach der Wahl mehrere Antworten präsentiert. Erdoğans Repressionsapparat, der eine kritische Presse mundtot gemacht und vielversprechende Oppositionelle ins Gefängnis geworfen hat; der unheilvolle Cocktail aus politischem Islam und Nationalismus, der vor allem der ländlichen Bevölkerung immer noch am besten schmeckt; der Führerkult um den "starken Mann" an der Spitze, dem als Einzigem die Lösung aller noch so massiven Probleme des Landes zugetraut wird; der fehlende Druck aus dem Westen, der in dem türkischen Präsidenten einen nützlichen Autokraten sieht, wie das Flüchtlingsabkommen beweist.
Dem ehemaligen Chefredakteur droht Gefängnis
Can Dündar, einer der renommiertesten Journalisten der Türkei und damit wie selbstverständlich ein Feind und Verräter in Erdoğans Augen, holt für die Beantwortung dieser Frage in seinem Buch "Die rissige Brücke über den Bosporus" weiter aus und geht bis zur Geburtsstunde der Türkei zurück: Der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, der in Berlin lebt, weil ihm in der Türkei Gefängnis und Schlimmeres drohen, nimmt den nahenden 100. Geburtstag der türkischen Republik zum Anlass, um konzise auf etwa 220 Seiten die ganz großen Zusammenhänge in einem progressiven und reaktionären, friedlichen und blutigen, hoffnungsfrohen und hoffnungslosen Jahrhundert türkischer Geschichte darzustellen. Er zeigt dabei, dass die Ursprünge heutiger Konflikte und Spannungen auf Ereignisse zurückzuführen sind, die sich bereits in Staatengründer Mustafa Kemal Atatürks Ära zugetragen haben.
Den Autor Çetin Altan zitierend schildert Dündar, wie die türkische Demokratie einer Schaukel gleich zwischen Kaserne und Moschee hin- und herpendelt. Schon die für damalige Verhältnisse höchst progressive Agenda Atatürks sah sich mit einer islamisch-reaktionären Gegenbewegung konfrontiert, blutige Niederschlagungen und Zusammenstöße waren die Folge - wie so viele Male in den hundert Jahren türkischer Geschichte. Angriffe auf ethnische oder religiöse Minderheiten sowie Attentate auf Ministerpräsidenten, politische Gegner, Intellektuelle und Journalisten waren und sind ein wiederkehrendes Element türkischer Politik.
Dündar spricht in diesem Zusammenhang von einer alle zehn Jahre erfolgenden Zäsur - einem "Gezeitenszenario", bei dem "Militärinterventionen, Wahlen, Regierungen im Wechsel von zehn Jahren kamen und gingen" - bis Erdoğan die politische Bühne betrat und jahrzehntelang geltende Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzte.
Die Knackpunkte: Kurdenfrage und Laizismus-Debatte
Dündar zeichnet entlang akribisch eingeordneter Großereignisse das Bild eines gespaltenen Landes, das seit seinem Bestehen hin- und herwippt: zwischen konservativ und reformistisch, traditionell und modern, muslimisch und laizistisch, zwischen rechts und links. Ein Tauziehen, wie er es nennt, bei dem die "beiden immer noch nachwirkenden Traumata zum Vorschein" kämen. "Zum einen die Paranoia vor der Spaltung, zum anderen der Religionsstreit. Mit anderen Worten: die Kurdenfrage und die Laizismus-Debatte."
Und Erdoğan? Der Mann, den Dündar als "Antithese zu den Thesen" bezeichnet, "die Atatürk bei der Transformation der Türkei aufstellte"? Unter dessen Herrschaft er (in Abwesenheit) zu mehr als 27 Jahren Haft verurteilt wurde, nur weil er als Journalist seiner Arbeit nachging? Dündar vermeidet es, seiner Verbitterung angesichts seines persönlichen Schicksals zu viel Raum zu geben. Vielmehr sind seine Analysen jener Phasen der türkischen Geschichte am stärksten, in denen er selbst recherchierte und aufdeckte, Zeuge und Angeklagter war: Dündar war es, der schon in den Neunzigerjahren über die Umtriebe des "tiefen Staats", Ergenekon genannt, berichtete. Er verfolgte den Machtkampf Erdoğans mit dem Militär und der Gülen-Bewegung sowie die Geschehnisse um den Putsch 2016 ganz nah. Und er war eines der Hauptangriffsziele der Regierung, als diese die freie Presse ins Visier nahm - im buchstäblichen Sinn: Einen Attentatsversuch im Mai 2016 überlebte er nur knapp.
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