Finden Sie das ideale Geschenk zum Muttertag – Jetzt schenken >>
Rezensiert in der SZ von Jens-Christian Rabe
[{"variant_id":"44545915814155" , "metafield_value":""}]
Hat man den Status als Linker verwirkt, obwohl man sich sein Leben lang für Gerechtigkeit eingesetzt hat? Diesen Eindruck, schreibt die amerikanische Philosophin Susan Neiman, hätten inzwischen viele ihrer Freunde und Bekannten. In ihrem Buch "Links ist nicht woke" denkt sie über die aktuelle Debatte über Cancel Culture und Identitätspolitik nach. Neiman analysiert, wie postmoderne Theorien die Linke beeinflusst haben, und beklagt einen vermeintlichen Verlust des Universalismus und grundlegender linker Werte. Sie plädiert dafür, die Betonung auf Identität und Opfererzählungen durch eine Rückbesinnung auf die Ideale der Aufklärung zu ersetzen. Handeln sei unerlässlich, auch im Kampf gegen rechte Kräfte. Ihre Thesen stoßen auf große Resonanz - und Kritik.
Die Philosophin Susan Neiman wirft der Woke-Bewegung den Verrat an allen großen linken Idealen vor. Hat sie damit recht?
"Links ist nicht woke" - unter allen Titeln der Bücher zum Thema, die in diesem Sommer herauskommen (seit ein paar Wochen gibt es Julian Nida-Rümelins Buch "Cancel Culture", bald wird Bernd Stegemanns "Identitätspolitik" erscheinen), ist der von Susan Neiman auf jeden Fall der direkteste und explosivste. Eine Kampfansage an die eigenen Leute. Oder jedenfalls an all jene, die von ihren Gegnern auch mal gerne abschätzig "Wokies" genannt werden und mit denen sich die gebürtige Amerikanerin Neiman, die Philosophieprofessorin in Yale und Tel Aviv war, bevor sie in Berlin die Leitung des Einstein-Forums übernahm, von Liberalen und Rechten in einen Topf geworfen sieht.
Es ist sehr gut möglich, dass auf dieses Buch ¬in den kommenden Wahlkampfmonaten noch häufig Bezug genommen werden wird. Denn was Neiman auf gerade einmal 168 Seiten zweifellos gelingt, ist eine exemplarisch zugespitzte Systematisierung und Charakterisierung der in den vergangenen Jahren viel diskutierten Konfliktlinien. Wenigstens jedenfalls der Konfliktlinien, die die klassisch-sozialdemokratische (alte) Linke sieht. Diese etablierte (Boomer-)Linke stellt in Deutschland gerade zwar den Kanzler und ist generationell tief in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt, sie fürchtet aber um ihre Pfründe.
Ist man kein Linker mehr, obwohl man sich sein Leben lang für Gerechtigkeit eingesetzt hat?
Völlig absurd ist das nicht, angesichts der Strategie der Konservativen und Rechten im gesamten Westen, ihre Anhänger mit explizit antiwoker Rhetorik zu mobilisieren. Kulturkämpfe sind Geschenke für den Wahlkampf, mit kniffligen Sachfragen lassen sich die Gemüter ungleich schwerer in Bewegung bringen als mit Polemiken gegen Gendersprache. Man muss kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass "woke" einer der Kampfbegriffe der Republikaner gegen die Demokraten im kommenden amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf sein wird.
Neiman, geboren 1955 in Georgia, spricht mit ihrem Buchtitel zudem all jenen aus dem Herzen, die die Welt nicht mehr verstehen, wenn der WDR etwa - wie gerade geschehen - in der Mediathek vor Otto-Shows aus den frühen Siebzigern einen Warnhinweis einblendet, dass das Programm Passagen enthalte, "die heute als diskriminierend betrachtet werden". Viele ihrer "über die Welt verstreuten Freunde", so Neiman, seien zu dem "bitteren Schluss" gekommen, sie gehörten nicht mehr zu den Linken, obwohl sie sich ihr Leben lang für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hätten.
Die "selbsternannte Linke von heute", so Neiman, habe im überkorrekten Einsatz gegen Diskriminierung und unter dem schlechten Einfluss postmoderner, aufklärungskritischer "Theorie", linke Kernideen fallen gelassen.
Gibt es angesichts des Rechtsrucks auf allen Kontinenten nun nichts Drängenderes als einen linken Grabenkampf? Neiman bringt die Frage selbst auf und verneint sie natürlich. Die Differenzen der beiden Lager träfen "ins Herz dessen, was es heißt, links zu sein" - was wiederum massive Auswirkungen auf den Kampf gegen rechts habe. Die "Linken von heute" hätten sich nämlich selbst der Ideen beraubt, die "wir unbedingt brauchen, um dem allgemeinen Rechtsruck zu widerstehen".
Im Namen einer aus dem Ruder gelaufenen Aufklärungskritik sei fatalerweise etwa der Universalismus aufgegeben worden. Also die Überzeugung, dass nicht eine wie auch immer geartete Stammeszugehörigkeit für die Solidarität unter Menschen entscheidend sei, sondern die Überzeugung, dass "wir Menschen trotz aller Unterschiede in Raum und Zeit im Grunde auf vielfältige Weise eins sind". Beeinflusst zwar von Ethnie und Herkunft, aber nicht bestimmt durch sie. Aus den richtigen Gründen - Mitgefühl für die Ausgegrenzten, den Drang, historisches Unrecht wiedergutzumachen, Empörung über die Misere der Unterdrückten -, aber mit falscher Konsequenz habe die Identitätspolitik der Woke-Bewegung Ethnie und Herkunft zu den alles entscheidenden Kategorien gemacht. Und dabei fatalerweise auch noch übersehen, wie sehr ein Denken dieser Art "Stammesdenken" sei und eigentlich doch die Sache des rechten Gegners.
Läuft doch, Rassismus nicht mehr so schlimm wie vor 100 Jahren - ist es so simpel?
Politisch besonders problematisch ist für Neiman in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass dabei anstelle des Helden auch noch das Opfer zum zentralen Subjekt der Geschichte geworden sei. Wir sollten aber "zu einer Haltung zurückkehren, für die Autoritätsansprüche darauf gründen, was man in der Welt getan hat, nicht darauf, was die Welt einem angetan hat".
Ähnlich robust wird dann alle moderne Kritik an der Aufklärung zurückgewiesen. Eurozentrismus, Kolonialismus, Rassismus - wenn überhaupt, sind das für sie nicht mehr als unglückliche Nebenfolgen. Im Gegenteil: "Die Aufklärung war bahnbrechend darin, den Eurozentrismus zu verwerfen und die Europäer zu drängen, sich selbst aus der Perspektive der übrigen Welt zu betrachten."
Im zweiten der drei Kapitel geht es dann gegen die Ansicht, dass das "Gerede von Gerechtigkeit" nichts als ein Deckmantel sei, um die wahre "Triebfeder der Welt" zu verschleiern: das Streben nach Macht. In einem bemerkenswerten intellektuellen Roundhouse-Kick knöpft sie sich die vermeintlichen Lieblingsdenker der "progressiven Kräfte" (die übrigens im ganzen Buch völlig anonym bleiben) vor: Adorno, Heidegger und Foucault. Sie alle seien sich einig gewesen, dass das, was sie "Vernunft der Aufklärung" nannten, "nicht bloß ein eigennütziger Schwindel sei, sondern ein herrisches, berechnendes und räuberisches Ungeheuer", nichts als "Werkzeug und Ausdruck der Macht". Ein Hinweis auf eine vermeintliche Faszination der "Woke-Bewegung" für den Nazi-Staatsrechtler Carl Schmitt und dessen scharfe Liberalismuskritik fehlt hier ebenso wenig wie ein Angriff auf die Soziobiologie, für die der Mensch nicht uneigennützig ist. Neiman hält es lieber mit dem Primatenforscher Frans de Waal, nach dem die Menschen von Grund auf moralische Wesen sind: "Uns liegt oft an Wahrhaftigkeit und nicht nur am Erhalt der Macht; oft handeln wir mit Rücksicht auf andere, aus Interessen, die nicht allein materiell sind."
Im dritten und letzten Kapitel steht schließlich der Fortschritt im Mittelpunkt, verstanden als die Vorstellung, "dass Menschen gemeinsam für sich und für andere beträchtliche Verbesserungen ihrer realen Lebensumstände erwirken können". Auch dies werde von den Progressiven abgestritten, so Neiman, bevor noch einmal ihr Lieblingsfeind Foucault ins Visier genommen wird, der es in seinen Büchern den Eindruck erwecke, dass jeder Versuch, die Dinge zum Besseren zu wenden, alles nur noch schlimmer mache: "Dass irgendein Gefängnisdirektor nach der Lektüre von Foucault sich noch um die Verbesserung der Haftzustände bemüht, ist schwer vorstellbar."
Spätestens hier liegt dann ganz offen da, was einerseits die Kraft von Neimans Gedanken ausmacht, andererseits bei der Lektüre auch zunehmend arges Unbehagen bereitet. Den Philosophen wirft sie im Grunde vor, keine linken Politpragmatiker wie sie selbst zu sein: "Wenn wir die Aufklärung weiterhin verzerren, werden wir kaum in der Lage sein, aus ihr zu schöpfen." Und den neuen "progressiven Kräften" unterstellt sie, eigentlich rechts zu sein, wenn sie alles Denken, das die Aufklärung hinterfragt und sich dafür interessiert, wie ernst wir es mit unseren Idealen meinen, für fortschrittsschädlich erklärt. Wenn nicht sogar längst der Wegweiser in den Abgrund: "Wer eine Diktatur errichten möchte, sollte seine Mitbürger tunlichst davon überzeugen, dass die Menschheit von Natur aus barbarisch ist und einen starken Führer braucht, damit sie sich nicht selbst zerfleischt." Hm, aber ob völlig schmerzfreie Simplifizierungen dieser Art das richtige Gegenmittel sind?
So ist es Fluch und Segen, dass sich Neiman offensichtlich nicht mit der Analyse begnügt, sondern auch keinerlei Scheu davor hat, das Fangirl der Aufklärung zu geben. Fluch, weil sie im Grunde nicht nur selbst die rechte Kritik an postmoderner Philosophie übernimmt. Sie macht auch manifeste Ohnmachtserfahrungen von Marginalisierten letztlich systematisch klein (obwohl sie der woken Bewegung explizit zugesteht, eine stärkere Sensibilität gegenüber systematischem Rassismus und dem Ausmaß des Kolonialismus bewirkt zu haben) - und vergisst darüber, wie schwer es sein kann, sich für universale Gerechtigkeit zu engagieren, wenn man etwa dauernd die Macht der Mehrheitsgesellschaft zu spüren bekommt, über den eigenen Kopf hinweg zu definieren, was man sein kann und was nicht (also zum eine Frau, aber leider, leider keine Chefin, oder eine Deutsche, aber nur "mit Migrationshintergrund"). Auch ihr Begriff von Fortschritt ist als "Abkehr von problematischen Zuständen" sehr unscharf und für die Mehrheitsgesellschaft sehr bequem, weil: Läuft doch, Rassismus nicht mehr so schlimm wie vor 100 Jahren.
Andererseits hat Neimans forsche Fortschrittsemphase auch etwas Mitreißendes, das in heillos komplizierten Zeiten wie diesen sehr selten geworden ist: "Wir sind verpflichtet, auf mehr zu hoffen. Wenn wir nicht hoffen, verlieren wir unsere Tatkraft. Und wenn wir nicht mehr tätig werden, werden sämtliche Vorhersagen der Schwarzmaler wahr."
Die bittersüße Lektüre der Stunde.
Geben Sie einfach Ihre Daten ein und abonnieren Sie kostenlos den SZ Shop Newsletter.
Entdecken Sie vor allen anderen...
✓ aktuelle Aktionen & Angebote✓ interessante Produktneuheiten✓ Geschenkideen für jeden Anlass