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Über Muster-Männer, Seitenspringer und flüchtende Erzeuger im Lebensborn - Rezensiert in der SZ von Ludger Heid
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Es war ein Männerbund nach Heinrich Himmlers Geschmack. Der SS-Verein "Lebensborn" hatte zum Ziel, "rassisch und erbbiologisch wertvolle" Kinder hervorzubringen, Tausende wurden in eigens errichteten "Lebensborn"-Heimen gezeugt und großgezogen. Die Väter blieben oft anonym und kümmerten sich nicht weiter um ihren Nachwuchs. Die Historikerin Dorothee Schmitz-Köster hat die Schicksale zahlloser "Lebensborn"-Kinder nachgezeichnet und erklärt auf einfühlsame Art, wie diese männerbündische Strategie die Kinder von damals bis heute belastet.
Dorothee Schmitz-Köster spürt den SS-Männern nach, die im "Lebensborn" arischen Nachwuchs zeugen sollten. Was dachten und wollten diese Männer, die oft anonym blieben?
Blonde Haare, blaue Augen, ein gesunder Körper - die Nazis hatten es mit Rasse und Blut. Ihr Idealbild war der arische Mensch, der allen anderen Menschengruppen überlegen war. In dieser Imagination und in einer pronatalistischen Politik verfangen, gründeten sie 1935 den "Lebensborn", einen eingetragenen Verein der SS, damit arische Frauen in speziellen Heimen arische Kinder zur Welt bringen konnten. "Lebensborn" war ein Instrument der NS-Rassen- und Bevölkerungspolitik. Einzige Voraussetzung für die Beteiligten war die Einstufung der Mütter, Väter und erwarteten Kinder als "rassisch und erbbiologisch wertvoll". Bis 1945 wurden in mehr als 20 Heimen in Deutschland, Belgien, Luxemburg und Frankreich etwa 17 000 bis 18 000 sogenannte Lebensborn-Kinder geboren und erzogen. In Deutschland waren es etwa 7000 oder 8000.
Das rassepolitische Bild der NS-Ideologie mutet, retrospektiv betrachtet, vorsintflutlich an, wenn in der SS-Wochenzeitung Das schwarze Korps über das unterschiedliche Triebleben der beiden Geschlechter schwadroniert wurde: Die "Natur" habe dem Mann den "Zeugungstrieb" mitgegeben, also den Trieb zur "schöpferischen Hervorbringung von Lebewesen". Der "weibliche Trieb" hingegen wolle "empfangen und im eigenen Schoß zur Reife" bringen. Die männliche Zeugungskraft sei, abgesehen von Impotenz und Alter, unbegrenzt - und solle deshalb gelebt werden dürfen. Mit solchen Denkfiguren erhielten Männer im NS-Staat einen Freifahrtschein für die Kinderproduktion und die Legitimation für ein frei flottierendes Sexualleben. Frauen mit ihrem "Muttertrieb" dagegen wurden zur Treue verpflichtet. Gleichwohl gestand auch die bürgerliche Doppelmoral augenzwinkernd ein außereheliches Sexualleben zu - wenn es denn diskret und ohne Folgen blieb.
Vier Kinder als Mindestzahl
Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, wurde nicht müde zu verkünden, er habe den Lebensborn geschaffen. Durch sprachliche Überhöhung machte er aus seiner Idee einen regelrechten Schöpfungsakt und stilisierte sich selbst zum Demiurgen. Als Mindestkinderzahl einer guten und gesunden Ehe, so Himmler, seien vier Kinder "erforderlich", eine Pflicht. Doch seine SS-Männer, deren Leitspruch "Unsere Ehre heißt Treue" lautete, hielten sich nicht an diese Vorgabe. Selbst überzeugte Sturmkämpfer ließen sich in ihrem Reproduktionsverhalten kaum beeinflussen.
Himmler ließ nicht locker: Im Oktober 1939 gab er den sogenannten Zeugungsbefehl heraus, der sich an die gesamte SS und Polizei richtete. Er begründete seinen Erlass mit dem gerade begonnenen Krieg, der zum "Aderlass des Volkes" führen würde. Himmler: "Über die Grenzen [...] bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittliche[n] Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden." Himmler garantierte, dass die SS "die Sorge" für die so erzeugten Kinder sowie für die Mütter in allen Fällen, in denen Not und Bedrängnis vorhanden seien, übernehmen werde. Damit war klar: Die Erzeuger aus Reihen der SS konnten sich entspannt zurücklehnen. Damit waren die Lebensborn-Männer ganz offiziell von jedweder väterlichen Verantwortung befreit. Sie konnten sich einzig und allein der Zeugung von Kindern guten Blutes hingeben.
Was waren das für Männer, die Himmlers Zeugungspropaganda wörtlich nahmen? Rassisten, die aus Überzeugung (und Lust) zur Vergrößerung der "arischen Rasse" beitragen wollten? Das sind zwei Fragen, die Dorothee Schmitz-Köster in ihrer Studie zu beantworten versucht. Auch wenn sie aus einer Frauenperspektive schreibt, verflüchtigte sich ihre Empathie, wenn sich herausstellte, dass eine Mutter sich "auserwählt" fühlte, weil sie als "Arierin" im Lebensborn entbinden durfte, wenn klar wurde, wie fest sie die Augen vor dem SS-Kontext verschlossen gehalten hatte.
Anonymität wurde garantiert
"Hochland" ist eins der neun "herrlichen" Lebensborn-Heime, idyllisch gelegen im bayerischen Steinhöring. Auf dem Dach des Hauses wehte fröhlich die Fahne der SS. Ein Entbindungsheim, wo verheiratete und ledige Frauen ihr Kind zur Welt bringen konnten, gut versorgt und in ländlicher Ruhe. "Hochland" warb mit einem Sonderangebot: Frauen und Männern, die es wünschten oder brauchten, wurde Anonymität garantiert. Die Schwangerschaft, die Geburt, das Kind und der Vater konnten geheim bleiben.
Entschied sich ein Vater, "geheim" zu bleiben - zum Beispiel wenn er anderweitig verheiratet war und die Ehefrau nichts erfahren durfte, ein uneheliches Kind ein Karrierehindernis war oder wenn er um seinen guten Ruf fürchten musste - wurde sein Name nicht in die Dokumente des Kindes vermerkt. Im Formular "Geburtsurkunde" gab es keine Rubrik für den Namen des Vaters. Im Interesse des Kindes war all dies nicht, im schlimmsten Fall erfuhr es nie, wer sein Vater war. Verheiratete Männer, die außerehelich ein Kind gezeugt hatten, konnten damit rechnen, dass der Lebensborn auf ihrer Seite stand.
Ausschlusskriterien für "unbrauchbare" Väter gab es faktisch keine: Männer, die eine Straftat begangen hatten, waren dennoch Lebensborn-kompatibel. Allein starker Alkoholkonsum eines Vaters in spe konnte den Stempel "unpassender Vater" bedeuten, weil zu erwarten war, dass das Kind sich als nicht wertvoll im Sinne der SS-Auslese entwickeln würde.
25 Jahre Recherchearbeit
Bis heute sind die Anerkennungs-Urkunden, die vom Lebensborn verwahrt wurden, nicht aufgetaucht. Sie wurden vermutlich verbrannt. Doch haben sich hinreichend Dokumente erhalten. Dorothee Schmitz-Köster hat eine 47 Aktenordner umfassende Sammlung zum "Lebensborn" zusammengetragen, das Ergebnis ihrer 25-jährigen Recherchearbeit zu diesem Thema.
Die erhaltenen Lebensborn-Dokumente geben beredt Auskunft über die Erzeuger, über ihre Position und ihre Mitgliedschaften, über ihre Vorstellungen, ihre Forderungen, ihr Verhalten. Und das heißt: Es wurden zumeist Probleme verhandelt. Da bezweifelt ein Mann seine Vaterschaft; ein anderer kann oder will keinen Unterhalt zahlen; eine Ehefrau verlangt, ihren Mann - der mit einer anderen Frau ein Kind bekommt, und sich trennen will - zur Räson zu bringen.
Viele Kinder lernten ihre Väter nie kennen
Dorothee Schmitz-Köster führt zahlreiche zum Teil abgründige Fallbeispiele aus dem Umfeld von Lebensborn an, die den Leser zum Staunen bringen. Sie hat Lebensborn-Kinder und -Mütter interviewt - zu einem Interview mit einem Lebensborn-Vater ist es nie gekommen.
Als Gemeinsamkeiten der Lebensborn-Männer hat sie ausgemacht: Es ging ihnen um gute Versorgung und einen geschütztem Ort für Mutter und Kind. Als SS-Mitglieder waren die meisten Männer Akteure bei der Menschenauslese, im Verfolgungs- und Terrorapparat, im Rassenkrieg. Außerdem zeichnen sie sich durch ihre Abwesenheit auch nach dem Krieg aus. Viele dieser Männer wurden hingerichtet, sind gefallen, verbrachten Jahre in Internierungs- oder Gefangenenlagern - oder haben sich umgebracht und manchmal Frau und Kinder mit in den Tod genommen. Nicht wenige sind einfach untergetaucht. Und schließlich sind da die "geheimen" Väter - die Männer, die von Anfang an versucht haben, sich der Verantwortung zu entziehen, die nie Unterhalt zahlten, die sich nie ihrem Kind zeigten. Die männerbündische Strategie, die der "Lebensborn" den Erzeugern angeboten hat, funktioniert bis in die Gegenwart - und belastet die Kinder bis heute.
Ludger Heid ist Zeithistoriker. Er lebt in Duisburg.
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