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Nachrichten vom Überleben im Krieg | Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 | Rezensiert in der SZ von Felix Stephan
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Für ein Tagebuch fehlt ihm die Zeit. Serhij Zhadan ist Tag und Nacht im beschossenen Charkiw (Ost-Ukraine) unterwegs - er evakuiert Kinder und alte Leute aus den Vororten, verteilt Lebensmittel, koordiniert Lieferungen an das Militär und gibt Konzerte. Die Posts in den sozialen Netzwerken dokumentieren seine Wege durch die Stadt und sprechen den Charkiwern Mut zu, unermüdlich, Tag für Tag.
Die Stadt leert sich. Freunde kommen um. Der Tod ist allgegenwärtig, der Hass wächst. Als die Bilder von Butscha um die Welt gehen, versagt auch Zhadan die Stimme. »Es gibt keine Worte. Einfach keine. Haltet durch, Freunde. Jetzt gibt es nur noch Widerstand, Kampf und gegenseitige Unterstützung.«
Nachrichten vom Überleben im Krieg: Das Buch ist eine Chronik der laufenden Ereignisse aus der Ukraine, das Zeugnis eines Menschen in der Ukraine, der während des Schreibens in eine neue Realität eintritt und sich der Vernichtung von allem entgegenstemmt. Kein einsamer Beobachter, sondern ein aktiver Zivilist in einer Gesellschaft, die in den letzten acht Jahren gelernt hat, was es bedeutet, gemeinsam stark zu sein.
2022 wird Serhij Zhadan zum Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gewählt. In der Begründung heißt es: »Wir ehren den ukrainischen Schriftsteller und Musiker für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft. In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Songtexten führt uns Serhij Zhadan in eine Welt, die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten. Nachdenklich und zuhörend, in poetischem und radikalem Ton erkundet Serhij Zhadan, wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen.«
Dies ist ein Vernichtungskrieg und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren": Ein Treffen mit Serhij Zhadan, dessen Tagebücher aus Charkiw schon jetzt zum Besten gehören, was man aus der Ukraine heute lesen kann.
Es herrscht immer eine gewisse Grundanspannung, wenn man als westlicher Journalist Serhij Zhadan gegenübersitzt. Hauptberuflich gibt dieser Mann Ska-Punk-Konzerte mit seiner Band Zhadan und die Hunde. In seinem Zweitberuf als bedeutendster ukrainischer Schriftsteller seiner Generation schreibt er Romane, in denen westliche Journalisten Nebenrollen als vertrottelte Gaffer einnehmen, die ukrainischen Frauen hinterhersteigen und ahnungslose Fragen stellen.
In seinen frühen Gedichten hatte man auch schon den Eindruck, dass sich darin eine derbe, schlammige, besoffene Männlichkeit absichtsvoll absetzte von der parfümierten, selbstbezogenen Empfindsamkeit des Westens. Und auch heute noch rechnet man unwillkürlich jederzeit damit, dass er mitten im Satz aufsteht, um sich dem Partisanenkampf anzuschließen. Man muss seine Fragen schnell stellen, sonst ist er womöglich einfach weg.
Für Harold Bloom war der "strong poet" jemand, der seine Künstlerperson aus der Angst erschuf, seinen literarischen Vorbildern zu ähnlich zu sein. Serhij Zhadan ist ein "strong poet" auch in dem Sinne, wie man ein "strongman" ist.
Zhadan ist im Donbass aufgewachsen, die Familie sprach Russisch
Eine Geschichte, die den interventionistischen Dichter Serhij Zhadan gut charakterisiert: 2018 nahm er einmal an einem deutsch-ukrainischen Autorentreffen in Mariupol teil, und obwohl er der mit Abstand prominenteste Autor war, sagte er während des ersten Konferenztages kein Wort und verunsicherte die ganze Runde. Den zweiten Tag schwänzte er ganz und als er am dritten Tag gut gelaunt und erfrischt wieder an seinem Platz saß, kam raus, dass er an die Front gefahren war, um den Tag stattdessen mit ukrainischen Soldaten zu verbringen, die sich dort Russland entgegenwarfen und die ihn natürlich alle aus dem Fernsehen kannten. Bisschen Selfies machen, bisschen quatschen, bisschen traurige Lieder singen. .
Im selben Jahr erschien auch "Internat", der Roman, der ihn in ganz Europa bekannt machte. Es geht dort um einen Mann mittleren Alters, mittleren Charakters und mittlerer Ambition, der seine Feierabende am liebsten vor dem Fernseher verdämmert, aber eines Morgens vor die Tür tritt und von Soldaten und Checkpoints umgeben ist . Während der Besatzung, deren Ursprung nie näher erläutert wird, entdeckt er auf einmal Qualitäten an sich, mit denen er selbst am allerwenigsten gerechnet hätte: Wagemut, Tapferkeit, Widerstandsfähigkeit.
Ihm kommt der Gedanke, dass er in der Nähe noch einen Neffen im Internat hat, und kämpft sich durch das wüste Land, um den Jungen rauszuholen. Der Roman ist nicht zuletzt eine listige Invertierung von Anton Tschechows Debüterzählung "Die Steppe", in der ein Onkel seinen Neffen im Gegenteil ins Internat bringt - eine Rückabwicklung, wenn man so will, des russischen Kulturerbes auf ostukrainischem Boden.
Diese Selbsterfindung des Ukrainers aus dem Geist des Widerstands ist nicht zuletzt eine Parabel auf all jenes sich als ukrainisch Begreifende, das sich spätestens seit 2014 unter permanentem russischem Beschuss aus den Trümmern des Sowjetimperiums erhebt. Die Armee der Ukrainischen Volksrepublik sei eine Armee ohne Nation und ohne Volk gewesen, sagt Zhadan. Die Armee der heutigen Ukraine wisse beides hinter sich.
Zhadan ist im Donbass aufgewachsen, die Familie sprach Russisch. Als die russische Armee jetzt kürzlich sein Heimatdorf besetzte, hat sie eines seiner Gedichte überstrichen, das dort auf eine Wand gemalt war. Daran sehe man, so Zhadan, dass es ihnen darum gehe, alles Ukrainische von der Landkarte zu tilgen. Es sei ein völlig harmloses Gedicht gewesen.
Aber es ist eben auch so: Etwas Politischeres als die ukrainische Sprache ist in der Ostukraine derzeit kaum denkbar. Seit Kriegsbeginn habe sich unter Charkiwern eine neue Redeweise entwickelt, sagt Zhadan: Die Leute hätten angefangen, Ukrainisch zu sprechen, um unmittelbar anzuzeigen, auf welcher Seite sie stehen. Und sie sparten in ihren Gesprächen bestimmte Themen aus. Niemals würde ein Charkiwer in einer privaten Unterhaltung die Stellungen ukrainischer Verbände laut aussprechen.
Seit Monaten regnen jetzt schon die russischen Raketen von Belgorod aus auf Charkiw, um Mitternacht geht es meistens los. Wenn man eine Wohnung in einem der oberen Stockwerke habe, könne man die Raketen heranfliegen sehen und habe dann zwei, drei Minuten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen oder die Einschläge in einem anderen Viertel zu beobachten.
Die Ukraine sei ein Europa im Kleinen, schrieb der Historiker Karl Schlögel
Der Suhrkamp- Verlag hat jetzt Zhadans Kriegstagebuch der ersten fünf Kriegsmonate unter dem Titel "Himmel über Charkiw" veröffentlicht , und was soll man sagen, es ist gleichzeitig das Traurigste und Erfreulichste, was es über diesen Krieg bislang zu lesen gibt. Zhadan führte dieses Tagebuch öffentlich auf seiner Facebook-Seite. Das bedeutet, dass er nicht nur Beobachtungen notiert, sondern gleichzeitig Spendenaktionen organisiert, Nachrufe auf Charkiwer Künstler schreibt, die an der Front gestorben sind, seinen Tausenden Lesern nach einer schlaflosen Nacht im Raketenregen Mut zuspricht. Als community worker ist er rund um die Uhr im Einsatz.
"Hallo allerseits", so lakonisch hebt der erste Eintrag am 24. Februar an, dem ersten Kriegstag. Zhadan und die Band geben bekannt, dass sie nicht vorhaben zu fliehen, sondern nach Charkiw zurückkehren werden, "denn hier ist unser Zuhause, hier sind unsere Familien und hier gehören wir hin". Die Konzerte seien zwar bis auf Weiteres abgesagt, aber jetzt gelte es, die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen: "Freunde, vergesst nicht: Dies ist ein Vernichtungskrieg und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren."
Vier Tage später heißt es: "Die Russen machen sich gar keine Vorstellung davon, was sie hier erwartet." Sie seien "gekommen, um uns von uns zu befreien". Die Kultur habe in diesem Krieg eine vernichtende Niederlage erlebt, und zwar die Kultur Dostojewskis und Tolstois: "Und ich kann nicht einmal Schadenfreude empfinden. Denn die Niederlage der Kultur bedeutet in der Realität - von Grad-Raketen verbrannte Zivilisten."
Lwiw und Charkiw verhalten sich wie die Lungenflügel der Ukraine
Von Charkiw sind es nur 40 Kilometer zur russischen Grenze, deshalb sei der Irrtum weitverbreitet, dass es sich im Herzen um eine russische Stadt handele. Die Russen glaubten es, die EU glaube es, und sogar viele Ukrainer glaubten es. Von Lwiw im Westen heiße es wiederum häufig, es handele sich eigentlich um eine polnische Stadt. Darin tritt das ganze Dilemma ukrainischer Staatlichkeit im Grunde schon hervor: Sie wird von allen Seiten als instabiles, vorübergehendes Phänomen betrachtet. In Wahrheit sei es so, sagt Serhij Zhadan, dass Lwiw im Westen und Charkiw im Osten den Bogen spannen, der die Ukraine zusammenhalte, "wie zwei Lungenflügel" verhielten sich diese beiden Städte.
Von dem Historiker Karl Schlögel stammt die Beobachtung, dass die Ukraine ein Europa im Kleinen sei. Ihre Nationalliteratur setzt auf den unterschiedlichsten Traditionen auf: Die Literatur, die im Westen entsteht, die Bücher von Juri Andruchowytsch und Tanja Maljartschuk, knüpft an die polnische und österreichische Tradition an, an Joseph Roth und Bruno Schulz. Auch Paul Celans Geburtsstadt Czernowitz liegt hier, auf Ukrainisch heißt sie Tscherniwzi. Die Literatur im Osten ist sowjetischer, imperialer, utopischer. Es gab Zeiten, da hätte man die Poetiken von Serhij Zhadan und dem russischen Nationalisten Zakhar Prilepin durchaus in Beziehung gesetzt. Heute gibt Zhadan kostenlose Konzerte für ukrainische Soldaten, und Prilepin ruft im russischen Staatsfernsehen dazu auf, nicht mehr so zimperlich mit ukrainischen Zivilisten umzugehen.
Auf den leeren Bürgersteigen huschen die "langen Schatten großer Ukrainer" vorbei
Es gibt irrsinnige Momente karger Schönheit in Zhadans Aufzeichnungen aus einer brennenden Stadt. Wenn er morgens Essen und Medikamente ausfährt, die er zuvor als Spenden eingetrieben hat, liegen die breiten Boulevards der Stadt postapokalyptisch leer und still da, und Zhadan erzählt davon, wie Cormac McCarthy es nicht besser könnte. Jeden Morgen steigt aus einem anderen Wohnviertel schwarzer Rauch auf. Auf den leeren Bürgersteigen huschen die "langen Schatten großer Ukrainer" vorbei.