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Roman - Rezensiert in der SZ von Felix Stephan
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Vollständige Rezension anzeigen Was für ein enormes Talent Die amerikanische Schriftstellerin Elif Batuman arbeitet am großen Bildungsroman unserer Zeit. Jetzt erscheint der zweite Teil auf Deutsch. Mit ihrem dritten Buch ist die amerikanische Schriftstellerin Elif Batuman gerade zum ersten Mal auch auf der Bestsellerliste der New York Times gelandet, und im Nachhinein liest sich ihr Werdegang, als hätte es anders eigentlich gar nicht kommen können. Batuman wurde als Kind türkischer Immigranten in New York geboren, hat an der Harvard University Literaturwissenschaft studiert, in Stanford in Komparatistik promoviert, parallel für den New Yorker und andere erstklassige Adressen der amerikanischen Longform über Literatur geschrieben und kurz darauf das Buch "Die Besessenen" veröffentlicht, eine Sammlung von Essays über russische Literatur. Das Buch enthält unter anderem eine Reportage über eine Konferenz internationaler Forscher auf Tolstois Landgut in Jasnaja Poljana, die zuerst 2009 im Harper's Magazine erschienen war und die zu den ganz großen Exemplaren gehört, die diese Form je hervorgebracht hat, in einer Liga mit Truman Capotes Besuch bei Marlon Brando in einem Hotelzimmer in Tokio von 1957 oder David Foster Wallaces Besuch des Lobster Festival in Maine, erschienen 2004 im Gourmet Magazine. Elif Batuman war gerade 30 und hatte in der Wissenschaft und im Journalismus im Grunde alles erreicht, aber im Rückblick sieht es nun so aus, als habe sie das nur einleitend aus der Welt schaffen wollen, bevor sie zum eigentlichen Thema kommt, dem Schreiben eigener Romane. 2017 ist ihr erster erschienen, auch er trug einen Dostojewskij-Titel, "The Idiot", und wurde direkt für den Pulitzer-Preis nominiert. Heute weiß man, dass es nur der erste Teil eines Großprojektes war, das in vier Büchern von den vier Lehrjahren der Ich-Erzählerin Selin Karadağ in Harvard erzählt, der Auftakt zu einem mehrbändigen Bildungsroman. Es gibt ja die These, dass Romane wie Flauberts "Éducation sentimentale" oder Tolstois Trilogie "Kindheit/Knabenjahre/Jugendzeit" in dem heutigen Medienumfeld nicht mehr geschrieben werden können, weil Fernsehen und Internet deren Rolle weitgehend übernommen haben. Elif Batuman erbringt in ihrer Romanreihe halsbrecherisch den Gegenbeweis. Hier kann man eine Erzählerin noch einmal sehr detailliert dabei beobachten, wie sie versucht, sich mit dem Dasein und seinen unbestreitbaren Nachteilen in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen und nebenbei zu einer Person zu werden. In den Zehnerjahren sind die großen biografischen Romanreihen von Karl-Ove Knausgård und Elena Ferrante vor allem dadurch hervorgetreten, dass sie sich den klassischen Erzählweisen und Regelpoetiken ausdrücklich verweigerten und stattdessen eine Prosa entwickelten, die ihre Kunst möglichst kunstlos aussehen ließ. Bei Elif Batuman hingegen ist der Anspruch, dem Kanon erst einmal auf Augenhöhe gegenüberzutreten, durchweg handlungstreibend. Unentwegt befindet sich die Erzählerin im inneren Dialog mit Puschkin, Proust oder Henry James, weil sie sich als ein amerikanischer Teenager begreift, der dazu verdammt ist, sich in dem kulturellen Raum zu orientieren, den diese Leute errichtet haben - am bündigsten vielleicht zusammengefasst in der Zeile: "Zu verstehen, worum es beim Sex ging, war dasselbe Gefühl, wie wenn man verstand, worum es bei Shakespeare ging." Der Handlungsbogen des ersten Romans besteht aus einer unglücklichen, unerfüllten Liebe. Selin ist einem ungarischen Kommilitonen namens Iwan verfallen, mit dem sie sich über das rudimentäre interne digitale Kommunikationssystem in Harvard - wir befinden uns in den Neunzigerjahren - unverständliche Nachrichten schreibt, weil es in Friedrich Schlegels Aufsatz "Über die Unverständlichkeit" heißt, "das Köstlichste, was der Mensch hat", liege an einem Punkt, "der im Dunkeln gelassen werden muss". Ein großer Reiz dieser Erzählwelt besteht darin, dass unentwegt hochbegabte Teenager die Wege der Erzählerin kreuzen, weil sie in Harvard eben in großer Zahl vorhanden sind. Wir sprechen von Siebzehnjährigen, die sich in der Kantine darüber mokieren, wenn jemand Baudelaire und Baudrillard verwechselt, und die das Klopfen an den Wohnheimzimmertüren für behavioristische Experimente nutzen. Ab welcher Klopfdichte werden die Klopfgeräusche als Klopfen wahrgenommen? Bei Kierkegaard erkennt sie ihre erste große Liebe wieder: als elaborierten Scherz Für Iwan lernt Selin Ungarisch, verbringt die Sommerferien in einem ungarischen Dorf, während ihre Freundinnen mit Praktika bei den Vereinten Nationen und der OECD die künftigen Großkarrieren vorbereiten, sie besucht seine ungarische Familie und versteht kein Wort von dem, was die Leute reden. Schließlich verbringen Iwan und Selin eine Nacht in einem Zimmer, und Selin gesteht sich ein, dass sie mit Iwan schlafen würde, sobald er auch nur das geringste Interesse anmeldet. Er meldet aber keines an, die Nacht vergeht, und der Roman endet nach 500 Seiten damit, dass Iwan seinen Abschluss macht und nach Berkeley wechselt. Wenn Selin von ihren Kommilitoninnen gefragt wird, ob in Ungarn "etwas zwischen ihnen passiert" sei, antwortet sie, dass vieles passiert sei, nur das eine eben nicht. An dieser Stelle setzt nun der zweite Roman "Entweder/Oder", der gerade auf Deutsch erschienen ist, mit dem größtmöglichen Plottwist ein, und falls man das erste Buch gerne noch lesen möchte, sollte man diesen Text hier wahrscheinlich besser abbrechen. Es geht also damit los, dass die Erzählerin Sören Kierkegaards Buch "Entweder/Oder" liest, in dem Kierkekaard das "ästhetische" und das "ethische" Leben begrifflich voneinander zu unterscheiden versucht. Im Abschnitt über das "ästhetische Leben" wird aus der Perspektive eines Verführers Schritt für Schritt erklärt, wie man zur eigenen Unterhaltung eine Frau erst erobert und dann unberührt wieder fallen lässt, um sie vollends um den Verstand zu bringen, und Selin stellt fest, dass Iwan dieser Anleitung einfach nur gefolgt war und ihre erste große Liebe nur ein kleiner elaborierter Scherz gewesen ist. Auch - aber nicht nur - in diesem Sinne ist das zweite Buch die größtmögliche Revision des ersten. Alles steht infrage und muss neu erwogen und bedacht werden. Bei der Buchpremiere des Romans im Shop der London Review of Books hat Elif Batuman darauf hingewiesen, dass zwischen den beiden Romanen "Me Too" vorgefallen ist, was ihren rückwärtigen Blick auf die eigene sexuelle Früherziehung entscheidend verändert hat. Sie selbst gehöre zu einer Generation von Frauen, die in Geschlechtsdingen noch in den Neunzigern sozialisiert wurde, in "Me Too"-Zeitrechung also ungefähr im Mittelalter, die heute aber immer noch relativ jung und mit einem neuen Bewusstsein auf ihre eigene Adoleszenz zurückschaut und Erlebnisse neu sortiert und bewertet. Die Grenzen zwischen einem unangenehmen One-Night-Stand und einem Date Rape, zwischen einer schmerzhaften Beziehung und psychologischem Missbrauch, haben sich in der Zwischenzeit deutlich verschoben, das zeigt sich nicht zuletzt am Vokabular, und Batuman bringt der Generation junger Frauen, die direkt nach ihr kam, für deren Arbeit an den Begriffen nichts als Dankbarkeit und Hochachtung entgegen. Insofern hat sich auch das Verhältnis zwischen der Autorin und ihrer Erzählerin in "Entweder/Oder" im Vergleich zum ersten Buch deutlich gewandelt. Die vierzigjährige Elif Batuman erzählt jetzt von der anderen Seite eines großen gesellschaftlichen Umbruchs aus der Perspektive einer 19-jährigen Studentin, die ihrerseits noch nicht weiß, welche Revolution ihr da ins Haus steht, und die die Schuld für Iwans Betrug noch immer intuitiv bei sich sucht. Erinnerungen von jenseits des Grabes. Als sie im Seminar einmal "Anna Karenina" zum zweiten Mal liest, stellt sie zerknirscht fest, dass alle Frauen in dem Buch Männer und Liebhaber haben, außer einem einzigen Mädchen, Warenka, aber selbst die bekommt einmal fast einen Heiratsantrag: "Es gab in diesem Buch keine Frau, mit der keiner schlafen wollte." Einige amerikanische Kritiker haben der Erzählerin vorgeworfen, sie denke zu viel nach Es wird Leser geben, die den Roman als eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Seminaren, Lektüren und Liebeskummer erleben werden. Nicht wenige amerikanische Kritiker haben der Erzählerin vorgeworfen, sie denke zu viel nach. Das würde allerdings bedeuten, dass ein aufregendes Leben nur um den Preis seiner Analyse zu haben ist, ein Frosch also ein aufregenderes Leben führt als, sagen wir, Hannah Arendt. Natürlich ist das Gegenteil wahr: Selins ganze Lebenskraft, Intelligenz und Fantasie ist dem Versuch gewidmet, ein unkonventionelles, freies, ästhetisches Leben zu führen. Deswegen ja Kierkegaard. Der Teil über das "ethische Leben" in dessen Buch, so fasst Selin es zusammen, "war nicht nur langweiliger als der ästhetische, er ergab auch kaum Sinn". Selin würde es viel lieber mit dem ästhetischen versuchen, aber: "Die einfachste Form des ästhetischen Lebens betraf die Verführung junger Mädchen, die dann fallen gelassen und in den Wahnsinn getrieben wurden. Das hatte ich aus Büchern gelernt. Es gab da ein Anwendungsproblem: Was tat man, wenn man selbst ein junges Mädchen war?" Was sollte man heute tun, fragt sie sich: "Männer verführen und sie dann fallen lassen? War es das, was der Feminismus möglich gemacht hatte? Irgendetwas daran fühlte sich nicht ästhetisch an." Wenn man die Kunst der Elif Batuman auf eine Formel bringen wollte, dann vielleicht diese: Sie lässt eine junge New Yorkerin, der ganz und gar ein Produkt der selbstbezogenen, neurotischen, ahistorischen amerikanischen Gegenwartskultur ist ("Dachte nicht die ganze Welt, Amerikaner seien Babys?") auf kanonische Romane los, deren Personal von ihrem eigenen Leben so weit entfernt ist, dass sie sich genauso gut in einer anderen Dimension abspielen könnten. Und doch macht sie die Entdeckungen, die ihr am meisten bedeuten, dort, in diesen Büchern. Und weil Elif Batuman eines dieser Talente ist, wie sie in der Literatur wirklich nicht häufig vorkommen, profitiert von dieser gedanklichen Arbeit nicht nur ihre Erzählerin, sondern tatsächlich auch der Kanon.
Die amerikanische Schriftstellerin Elif Batuman arbeitet am großen Bildungsroman unserer Zeit. Jetzt erscheint der zweite Teil auf Deutsch.
Mit ihrem dritten Buch ist die amerikanische Schriftstellerin Elif Batuman gerade zum ersten Mal auch auf der Bestsellerliste der New York Times gelandet, und im Nachhinein liest sich ihr Werdegang, als hätte es anders eigentlich gar nicht kommen können. Batuman wurde als Kind türkischer Immigranten in New York geboren, hat an der Harvard University Literaturwissenschaft studiert, in Stanford in Komparatistik promoviert, parallel für den New Yorker und andere erstklassige Adressen der amerikanischen Longform über Literatur geschrieben und kurz darauf das Buch "Die Besessenen" veröffentlicht, eine Sammlung von Essays über russische Literatur.
Das Buch enthält unter anderem eine Reportage über eine Konferenz internationaler Forscher auf Tolstois Landgut in Jasnaja Poljana, die zuerst 2009 im Harper's Magazine erschienen war und die zu den ganz großen Exemplaren gehört, die diese Form je hervorgebracht hat, in einer Liga mit Truman Capotes Besuch bei Marlon Brando in einem Hotelzimmer in Tokio von 1957 oder David Foster Wallaces Besuch des Lobster Festival in Maine, erschienen 2004 im Gourmet Magazine.
Elif Batuman war gerade 30 und hatte in der Wissenschaft und im Journalismus im Grunde alles erreicht, aber im Rückblick sieht es nun so aus, als habe sie das nur einleitend aus der Welt schaffen wollen, bevor sie zum eigentlichen Thema kommt, dem Schreiben eigener Romane. 2017 ist ihr erster erschienen, auch er trug einen Dostojewskij-Titel, "The Idiot", und wurde direkt für den Pulitzer-Preis nominiert. Heute weiß man, dass es nur der erste Teil eines Großprojektes war, das in vier Büchern von den vier Lehrjahren der Ich-Erzählerin Selin Karadağ in Harvard erzählt, der Auftakt zu einem mehrbändigen Bildungsroman.
Es gibt ja die These, dass Romane wie Flauberts "Éducation sentimentale" oder Tolstois Trilogie "Kindheit/Knabenjahre/Jugendzeit" in dem heutigen Medienumfeld nicht mehr geschrieben werden können, weil Fernsehen und Internet deren Rolle weitgehend übernommen haben. Elif Batuman erbringt in ihrer Romanreihe halsbrecherisch den Gegenbeweis. Hier kann man eine Erzählerin noch einmal sehr detailliert dabei beobachten, wie sie versucht, sich mit dem Dasein und seinen unbestreitbaren Nachteilen in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen und nebenbei zu einer Person zu werden.
In den Zehnerjahren sind die großen biografischen Romanreihen von Karl-Ove Knausgård und Elena Ferrante vor allem dadurch hervorgetreten, dass sie sich den klassischen Erzählweisen und Regelpoetiken ausdrücklich verweigerten und stattdessen eine Prosa entwickelten, die ihre Kunst möglichst kunstlos aussehen ließ. Bei Elif Batuman hingegen ist der Anspruch, dem Kanon erst einmal auf Augenhöhe gegenüberzutreten, durchweg handlungstreibend. Unentwegt befindet sich die Erzählerin im inneren Dialog mit Puschkin, Proust oder Henry James, weil sie sich als ein amerikanischer Teenager begreift, der dazu verdammt ist, sich in dem kulturellen Raum zu orientieren, den diese Leute errichtet haben - am bündigsten vielleicht zusammengefasst in der Zeile: "Zu verstehen, worum es beim Sex ging, war dasselbe Gefühl, wie wenn man verstand, worum es bei Shakespeare ging."
Der Handlungsbogen des ersten Romans besteht aus einer unglücklichen, unerfüllten Liebe. Selin ist einem ungarischen Kommilitonen namens Iwan verfallen, mit dem sie sich über das rudimentäre interne digitale Kommunikationssystem in Harvard - wir befinden uns in den Neunzigerjahren - unverständliche Nachrichten schreibt, weil es in Friedrich Schlegels Aufsatz "Über die Unverständlichkeit" heißt, "das Köstlichste, was der Mensch hat", liege an einem Punkt, "der im Dunkeln gelassen werden muss". Ein großer Reiz dieser Erzählwelt besteht darin, dass unentwegt hochbegabte Teenager die Wege der Erzählerin kreuzen, weil sie in Harvard eben in großer Zahl vorhanden sind. Wir sprechen von Siebzehnjährigen, die sich in der Kantine darüber mokieren, wenn jemand Baudelaire und Baudrillard verwechselt, und die das Klopfen an den Wohnheimzimmertüren für behavioristische Experimente nutzen. Ab welcher Klopfdichte werden die Klopfgeräusche als Klopfen wahrgenommen?
Bei Kierkegaard erkennt sie ihre erste große Liebe wieder: als elaborierten Scherz
Für Iwan lernt Selin Ungarisch, verbringt die Sommerferien in einem ungarischen Dorf, während ihre Freundinnen mit Praktika bei den Vereinten Nationen und der OECD die künftigen Großkarrieren vorbereiten, sie besucht seine ungarische Familie und versteht kein Wort von dem, was die Leute reden. Schließlich verbringen Iwan und Selin eine Nacht in einem Zimmer, und Selin gesteht sich ein, dass sie mit Iwan schlafen würde, sobald er auch nur das geringste Interesse anmeldet. Er meldet aber keines an, die Nacht vergeht, und der Roman endet nach 500 Seiten damit, dass Iwan seinen Abschluss macht und nach Berkeley wechselt. Wenn Selin von ihren Kommilitoninnen gefragt wird, ob in Ungarn "etwas zwischen ihnen passiert" sei, antwortet sie, dass vieles passiert sei, nur das eine eben nicht.
An dieser Stelle setzt nun der zweite Roman "Entweder/Oder", der gerade auf Deutsch erschienen ist, mit dem größtmöglichen Plottwist ein, und falls man das erste Buch gerne noch lesen möchte, sollte man diesen Text hier wahrscheinlich besser abbrechen. Es geht also damit los, dass die Erzählerin Sören Kierkegaards Buch "Entweder/Oder" liest, in dem Kierkekaard das "ästhetische" und das "ethische" Leben begrifflich voneinander zu unterscheiden versucht. Im Abschnitt über das "ästhetische Leben" wird aus der Perspektive eines Verführers Schritt für Schritt erklärt, wie man zur eigenen Unterhaltung eine Frau erst erobert und dann unberührt wieder fallen lässt, um sie vollends um den Verstand zu bringen, und Selin stellt fest, dass Iwan dieser Anleitung einfach nur gefolgt war und ihre erste große Liebe nur ein kleiner elaborierter Scherz gewesen ist.
Auch - aber nicht nur - in diesem Sinne ist das zweite Buch die größtmögliche Revision des ersten. Alles steht infrage und muss neu erwogen und bedacht werden. Bei der Buchpremiere des Romans im Shop der London Review of Books hat Elif Batuman darauf hingewiesen, dass zwischen den beiden Romanen "Me Too" vorgefallen ist, was ihren rückwärtigen Blick auf die eigene sexuelle Früherziehung entscheidend verändert hat. Sie selbst gehöre zu einer Generation von Frauen, die in Geschlechtsdingen noch in den Neunzigern sozialisiert wurde, in "Me Too"-Zeitrechung also ungefähr im Mittelalter, die heute aber immer noch relativ jung und mit einem neuen Bewusstsein auf ihre eigene Adoleszenz zurückschaut und Erlebnisse neu sortiert und bewertet. Die Grenzen zwischen einem unangenehmen One-Night-Stand und einem Date Rape, zwischen einer schmerzhaften Beziehung und psychologischem Missbrauch, haben sich in der Zwischenzeit deutlich verschoben, das zeigt sich nicht zuletzt am Vokabular, und Batuman bringt der Generation junger Frauen, die direkt nach ihr kam, für deren Arbeit an den Begriffen nichts als Dankbarkeit und Hochachtung entgegen.
Insofern hat sich auch das Verhältnis zwischen der Autorin und ihrer Erzählerin in "Entweder/Oder" im Vergleich zum ersten Buch deutlich gewandelt. Die vierzigjährige Elif Batuman erzählt jetzt von der anderen Seite eines großen gesellschaftlichen Umbruchs aus der Perspektive einer 19-jährigen Studentin, die ihrerseits noch nicht weiß, welche Revolution ihr da ins Haus steht, und die die Schuld für Iwans Betrug noch immer intuitiv bei sich sucht. Erinnerungen von jenseits des Grabes. Als sie im Seminar einmal "Anna Karenina" zum zweiten Mal liest, stellt sie zerknirscht fest, dass alle Frauen in dem Buch Männer und Liebhaber haben, außer einem einzigen Mädchen, Warenka, aber selbst die bekommt einmal fast einen Heiratsantrag: "Es gab in diesem Buch keine Frau, mit der keiner schlafen wollte."
Einige amerikanische Kritiker haben der Erzählerin vorgeworfen, sie denke zu viel nach
Es wird Leser geben, die den Roman als eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Seminaren, Lektüren und Liebeskummer erleben werden. Nicht wenige amerikanische Kritiker haben der Erzählerin vorgeworfen, sie denke zu viel nach. Das würde allerdings bedeuten, dass ein aufregendes Leben nur um den Preis seiner Analyse zu haben ist, ein Frosch also ein aufregenderes Leben führt als, sagen wir, Hannah Arendt. Natürlich ist das Gegenteil wahr: Selins ganze Lebenskraft, Intelligenz und Fantasie ist dem Versuch gewidmet, ein unkonventionelles, freies, ästhetisches Leben zu führen.
Deswegen ja Kierkegaard. Der Teil über das "ethische Leben" in dessen Buch, so fasst Selin es zusammen, "war nicht nur langweiliger als der ästhetische, er ergab auch kaum Sinn". Selin würde es viel lieber mit dem ästhetischen versuchen, aber: "Die einfachste Form des ästhetischen Lebens betraf die Verführung junger Mädchen, die dann fallen gelassen und in den Wahnsinn getrieben wurden. Das hatte ich aus Büchern gelernt. Es gab da ein Anwendungsproblem: Was tat man, wenn man selbst ein junges Mädchen war?" Was sollte man heute tun, fragt sie sich: "Männer verführen und sie dann fallen lassen? War es das, was der Feminismus möglich gemacht hatte? Irgendetwas daran fühlte sich nicht ästhetisch an."
Wenn man die Kunst der Elif Batuman auf eine Formel bringen wollte, dann vielleicht diese: Sie lässt eine junge New Yorkerin, der ganz und gar ein Produkt der selbstbezogenen, neurotischen, ahistorischen amerikanischen Gegenwartskultur ist ("Dachte nicht die ganze Welt, Amerikaner seien Babys?") auf kanonische Romane los, deren Personal von ihrem eigenen Leben so weit entfernt ist, dass sie sich genauso gut in einer anderen Dimension abspielen könnten. Und doch macht sie die Entdeckungen, die ihr am meisten bedeuten, dort, in diesen Büchern. Und weil Elif Batuman eines dieser Talente ist, wie sie in der Literatur wirklich nicht häufig vorkommen, profitiert von dieser gedanklichen Arbeit nicht nur ihre Erzählerin, sondern tatsächlich auch der Kanon.
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