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Alex Natan (1906-1971). Eine Biografie - Rezensiert in der SZ von Roman Deininger
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Über das faszinierende Leben des jüdischen Sprinters Alex Natan
Alex Natan war Weltrekordler, Journalist, Sozialdemokrat, Bohemien – und im Exil ein Mittelsmann des Widerstands. Der Historiker Kay Schiller hat das faszinierende Leben des jüdischen Sprinters der Vergessenheit entrissen.
Es ist der 22. Juli 1929, als Alex Natan sich seinen kleinen Platz in den Annalen der Leichtathletik erläuft. Deutsche Meisterschaften in Breslau, Finale über 4 x 100 Meter. Die Staffel von Eintracht Frankfurt gilt als Favorit, doch die Männer des Sport-Clubs Charlottenburg halten dagegen. Natan, ein eleganter, geradezu zarter Athlet mit halblangem Haar, geht als dritter Charlottenburger auf die Aschenbahn, er holt einen „klaren Vorsprung“ heraus, wie die B.Z. am Mittag notiert. Schlussläufer Hermann Schlöske führt die Staffel mit dem „C“ auf der Trikotbrust dann zum Titel – und zum Weltrekord: 40,8 Sekunden, schneller als die Amerikaner vom Newark Athletic Club. Die deutsche Presse überschlägt sich vor Begeisterung und Stolz. Die Vossische Zeitung feiert einen „herrlichen, kampf-durchbebten Abschluss der Athletik-Meisterschaften“.
Nur wenige Jahre später wird Natan sein Platz in den Geschichtsbüchern schon wieder genommen – die Nationalsozialisten sind jetzt an der Macht, sie tilgen Jüdinnen und Juden sogar aus alten Statistiken. „In den Rekordlisten des Dritten Reiches konnte man lesen, dass der Weltrekord der 4 x 100-Meter-Staffel von drei Läufern und einer Lücke des Sport-Clubs Charlottenburg gehalten wurde“, schreibt Natan später. „Diese Lücke war ich.“
Alex Natan war ein hervorragender Sprinter, bei den Deutschen Meisterschaften 1925 Fünfter über 100 Meter, vier Mal deutscher Staffelmeister, „der schnellste Jude Deutschlands“, wie ihn sein Großonkel, der bekannte Kunsthändler Alfred Flechtheim, etwas euphorisch betitelte. Sein Name ist heute auch zurück in den Annalen. Aber Natan war zu Lebzeiten kein Star, und selbst im Rückblick ist er keine prägende Figur der deutschen Leichtathletik. Er war ein Mann der „zweiten Reihe“, stellt der deutsch-britische Historiker Kay Schiller, der an der Universität Durham in Nordengland lehrt, nüchtern fest. Trotzdem hat Schiller ihm eine stattliche Biografie gewidmet, 398 Seiten. Und schon nach den ersten Seiten versteht man, warum.
Ein Grundmotiv des Buches ist Natans unerschütterliches Bemühen, im rohen Spiel der Kräfte selbstbestimmt zu bleiben
Natan war Sportler und Journalist, Sozialdemokrat und Bohemien, jedenfalls ein Exzentriker und „existenzieller Außenseiter“, wie Schiller das nennt: jüdisch, intellektuell und schwul. Schillers Buch erzählt ein deutsches Leben, erfasst vom „Mahlstrom der Geschichte“, in dem sich in aller Pracht und in aller Grausamkeit das 20. Jahrhundert spiegelt – von den Berliner Salons der Weimarer Republik über den Aufstieg der Nationalsozialisten und das schwierige Schicksal im Exil bis zu den jungen Jahren der Bonner Republik. Manchmal sieht man die Dinge aus der zweiten Reihe schärfer als aus der ersten.
Ein Grundmotiv des Buches ist Natans unerschütterliches Bemühen, als Einzelner im rohen Spiel der Kräfte einigermaßen selbstbestimmt zu bleiben, politisch, sexuell, in allen Fragen. Natan folgte stets seinen Leidenschaften, und seiner Sprinterkarriere bekam das nicht gerade gut. Seine wertvolle Zeit wollte er nicht mit allzu viel Training vergeuden: „Schließlich studierte ich in Paris oder erlebte den Fasching in München oder strolchte im Mittelmeer herum.“ Solcher Müßiggang trug wahrscheinlich mehr als Diskriminierung dazu bei, dass er es nie zu den Olympischen Spielen schaffte.
Gleichwohl war es ihm sehr ernst mit dem Sport, er blieb ihm als Reporter lebenslang und innig verbunden. Bereits in seiner aktiven Zeit schrieb er für Vorwärts und Welt am Montag, er begriff sich, so Schiller, als „politischer Sportjournalist“, der sich ständig mit Verbandsfunktionären anlegte, die in seinen Augen den Sport militarisierten, dessen unschuldige Ästhetik zerstörten und die Mündigkeit der Athleten mit sklavischen Regelwerken beschnitten. Bei den Nazis machte er sich nicht beliebt, als er die wahre Natur ihrer „Volkssport“-Lager offenbarte. Der Sport-Club Charlottenburg warf ihn wegen angeblich „unpatriotischem Verhalten und schmutziger Charakterlosigkeit“ hinaus.
Fast vier Jahre lang wurde er in England als möglicher Gestapo-Agent interniert
1933 floh Natan nach England – und wurde dort zu einem Mittelsmann des deutschen Widerstands. Er hielt Kontakt zu einem Kreis hochrangiger Beamter, die Hitler durch den Reichsvizekanzler Franz von Papen ersetzen wollten, den sie als kleineres Übel betrachteten. Mit einer Reise nach Deutschland riskierte Natan im Sommer 1934 sein Leben, und als die Verschwörer aufflogen, entkam er nur mit Glück den Nazi-Häschern. Kay Schiller, der sich mit grundlegenden Werken zu Olympia 1972 (mit Christopher Young) und der Fußball-WM 1974 einen Namen als Deuter deutscher Sportgeschichte erworben hat, erzählt das alles frei von Effekthascherei. Er hat mit Alex Natan eine Entdeckung gemacht und kann darauf vertrauen, dass in diesem kleinen Leben das Große immer wieder durchscheint.
Die Stürme des Jahrhunderts hinterließen Natan entwurzelt und beinahe heimatlos. Fast vier Jahre lang wurde er in England als möglicher Gestapo-Agent interniert, dem Inlandsgeheimdienst MI5 war dabei wohl nicht zuletzt seine Homosexualität verdächtig. Nach dem Krieg wollte er dennoch nicht dauerhaft zurück nach Deutschland, seine Verwandten waren ja entweder ermordet worden oder ausgewandert wie er. Auf der Insel baute Natan sich ein neues Leben als Lehrer und Korrespondent auf, er schrieb unter anderem für Tagesspiegel, Zeit und FAZ. Es war ein gutes Leben, doch seine Einbürgerungsanträge wurden allesamt abgelehnt – der Mann war kein Nazi, das wussten die britischen Behörden jetzt zwar, aber vielleicht ja ein Kommunist.
Im Januar 1971 starb Natan mit 64 Jahren an Herzversagen, man fand ihn an seinem Londoner Schreibtisch, über Arbeitspapiere gebeugt. Familie, die um ihn hätte trauern können, hatte er nicht mehr. Nur eine Handvoll deutscher Zeitungen vermeldete knapp den Tod eines früheren Weltrekordhalters. Nun, ein halbes Jahrhundert später, hat Kay Schiller das faszinierende Leben des Alex Natan der Vergessenheit entrissen.