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Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert - Rezensiert in der SZ von Robert Probst
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Kann ein einzelner Mensch das Schicksal seines Landes bestimmen? Ian Kershaw hat sich zwölf "Geschichtsmacher" vorgenommen.
Der Vorsitzende sprach in wuchtigen Worten. "Niemand von uns weiß, ob diese schwelende Krise nicht irgendwann - vielleicht noch in Zeiten unserer Generation - wie ein Vulkan ausbricht." Er forderte einen "wirklichen Beitrag für den Frieden", wohlwissend, dass seine Ideen weder in der Öffentlichkeit noch in der eigenen Partei sonderlich populär waren. Aber, so fuhr er fort, "nicht das, was populär ist, ist vor der Geschichte richtig. Es kommt darauf an, dass wir erkennen, dass der Mantel der Geschichte durch Zeit und Raum geht und wir uns unserer Verantwortung gemäß entsprechend einrichten". Das Protokoll vermerkt Beifall.
Helmut Kohl sprach diese Worte im Oktober 1978 beim CDU-Parteitag in Ludwigshafen, es ging damals um Konflikte in der Entwicklungspolitik. Dass Kohl einmal Regierungschef oder gar der "Kanzler der Einheit" werde könnte, war damals in keiner Weise abzusehen. Und der Mantel der Geschichte war natürlich auch nicht Kohls Erfindung, aber er wusste als Machtmensch um dessen Bedeutung. Und 1989, da ergriff er einen Zipfel dieses Mantels.
Machen Männer Geschichte oder macht Geschichte "große" Männer?
Und genau deshalb schaffte er es nun hinein in das neue Buch des britischen Historikers Ian Kershaw mit dem Titel "Der Mensch und die Macht", das in diesen Tagen auf Deutsch erscheint. Man könnte von einer großen Ehre sprechen, Kershaw hat nur zwölf Menschen Aufnahme zwischen die beiden Buchdeckel gewährt. Zwölf Menschen - elf Männer, eine Frau -, die das Schicksal Europas im 20. Jahrhundert bestimmt haben. Was Kershaw interessiert, ist nicht weniger als der Einfluss des Einzelnen auf den historischen Wandel. Es geht also um den Mantel der Geschichte, wer ihn ergreift und unter welchen Umständen - auch wenn im Buch immer vom "Stempel" und dessen Prägekraft die Rede ist.
Allerdings relativiert sich das mit der Ehre, wenn man sich die porträtierten Gestalten einmal näher anschaut. Zahlreiche lupenreine Diktatoren, autoritäre bis autokratische Staatenlenker und nur drei, vier Demokraten hat Kershaw da versammelt.
Nun ist über Lenin, Benito Mussolini, Adolf Hitler, Stalin, Winston Churchill, Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Francisco Franco, Josip Broz Tito, Margaret Thatcher, Michail Gorbatschow und eben Kohl eigentlich so ziemlich alles bekannt. Und Kershaw hat außer über Hitler, wie er selbst sagt, keine Primärforschung betrieben, er stützt sich hier auf die zahllosen großen Biografien. Nach seiner eigenen Definition sind die einzelnen - chronologisch sortierten - je 30 bis 40 Seiten langen Kapitel dann auch keine Minibiografien, sondern "interpretative Essays". Die Auswahl erfolgte mit Blick auf "Führertypen", die während einer große Systemkrise ans Staatssteuer kamen und wie sie in solchen Zeiten zur "Machtvollkommenheit" gelangten. Kohl ist also in dem Sinn eine Ausnahme - seine Zeit kam erst lange nach seiner Kanzlerwahl.
Warum so ein Buch über zwölf zum großen Teil sehr unsympathische, schreckliche und grenzwertige Persönlichkeiten? Kershaw, 79, emeritierter Historiker der Universität Sheffield und berühmt geworden mit seiner fantastischen Hitler-Biografie (DVA, 1998ff.) hat in den vergangenen Jahren mit "Höllensturz. Europa 1919-1949" (DVA, 2016) und "Achterbahn. Europa 1950 bis heute" (DVA, 2019) zwei wegweisende Bände über Europa im 20. Jahrhundert vorgelegt. Er kannte also seine Pappenheimer, sein Urteil ist gefragt, eine Art "Spin-off" war die logische Folge.
Aber natürlich belässt es Kershaw nicht bei einer Aufzählung der Taten und vor allem der Untaten dieser Staats- und Regierungschefs. Er will erkunden, wie die "markante Persönlichkeit" und die äußeren Umstände, die die Person an die Macht brachten, zusammenwirkten, innerhalb welcher vor allem sozioökonomischer Rahmenbedingungen sich die Macht entfaltete und was am Ende davon übrig blieb. Darum sind alle Kapitel recht schematisch in "Charakterzüge/Herkunft", "Vorbedingungen der Macht", "Regierungszeit" und "Hinterlassenschaft" gegliedert.
Weil er also viel mit unpersönlichen Bedingungen, "Veränderungsmustern" und Strukturen arbeitet, erklärt Kershaw die sich aufdrängende Frage nach der "Größe" oder der "charismatischen Herrschaft" von Führerpersonen gleich in der Einleitung für irrelevant. Er befreit sich auf diese Weise recht elegant von der Last, diese zwölf Personen moralisch bewerten zu müssen - und das ist die große Stärke des Buches: Er schreibt so nüchtern es geht und dennoch elegant in gleicher Weise über Diktatoren und demokratische Führer, ohne ein Ranking der Besten oder Bösesten aufzustellen oder gar Millionen Tote gegeneinander aufrechnen zu müssen. Jedes Beispiel steht für sich.
Der Mantel der Geschichte weht dann über 550 Seiten durch Zeit und Raum in Form von Revolutionen, Weltkriegen, Wirtschaftskrisen, schwachen Demokratien, falsch kalkulierenden Machteliten, faschistischen oder kommunistischen Massenbewegungen - um nur einige zu nennen - oder schlicht dem Zufall. Manchmal war auch einfach gerade kein anderer da.
Gerade durch den Fokus auf die Bedingungen der jeweiligen "Machtergreifung" (steht öfter auch mal ohne Anführungszeichen im Buch) erschafft Kershaw ein einzigartiges Panorama eines Jahrhunderts, dessen zerstörerische Kraft, dessen Millionen Tote und dessen hoffnungslose Düsternis in den ersten 50 Jahren für viele schon weit entrückt ist. Und er erinnert daran, dass es danach zwar vielerorts aufwärtsging, dass bis 1989/90 der Kalte Krieg Europa aber weiter elementar bedrohte. Nicht von ungefähr zeichnet er dann Kohl und Gorbatschow (Letzteren mit deutlicher Bewunderung) am positivsten.
Große Schwäche: mangelnde Interaktion der Figuren
Natürlich hat diese Häppchen-Strategie große Schwächen: Man vermisst vor allem die US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, Ronald Reagan und George Bush senior, die dann doch eine erhebliche Rolle in Europas Geschichte gespielt haben. Die Einteilung in Einzelkapitel (mit teils albern verkürzten Zuschreibungen) erlaubt es auch nicht, die Interaktion der einzelnen "Führer", die zur gleichen Zeit lebten und die einander etwa im Zweiten Weltkrieg bekämpften, zu beleuchten. Und natürlich verengt sich die Sichtweise stark auf die zwölf Fallbeispiele, deren engsten Zirkel und die jeweilige (bisherige) Führungselite. Die übrige Gesellschaft der jeweiligen Länder kommt kaum vor - ohne dass sie etwa im Falle Hitlers von ihrer Mitverantwortung exkulpiert wird. Und weil nicht genügend Platz ist, alle Verbrechen genau zu erklären, wird der Leser oft mit Adjektiven wie "grotesk", "haarsträubend" oder "himmelschreiend" traktiert.
Trotz aller Unterschiedlichkeit und Tiefe der Durchdringung der Fallbeispiele erkennt Kershaw bei allen zwölf am Schluss "ungewöhnliche Zielstrebigkeit", "unbändigen Erfolgswillen" und "ein Maß an Egozentrik, das extreme Loyalität verlangte und jeden und alles dem Erreichen des angestrebten Ziels unterordnete". "Instinktiv autoritär" als Charaktereigenschaft und die Lust am Befehlen wird auch noch aufgezählt.
Autokratisches Temperament muss übrigens nicht in jedem Fall negativ sein, meint Kershaw, und nennt große Krisen oder einen Krieg als Beispiele, wo "langsame und häufig schwerfällige Entscheidungsprozesse in der Regel unzweckmäßig" seien. Andererseits: "In allen Systemen, einschließlich der Demokratien, gelangen Führer, die in der Lage sind, ihre Macht zu festigen und über lange Zeit auszuüben, in eine Position, die es ihnen erlaubt, Einschränkungen der Machtausübung auszuhebeln." Mal sehen, was dereinst über Angela Merkel in dem Zusammenhang geschrieben wird.
Mit Rezepten für das 21. Jahrhundert mit "Führern" wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan oder Xi Jinping hält sich Kershaw zurück. "Versuchungen des Autoritarismus" zu widerstehen, lautet sein Rat. Die Quintessenz aus "Der Mensch und die Macht" ist so banal wie richtig: Man sollte nicht nur immer auf die Person an der Spitze schauen, sondern auch die anderen Machtfaktoren im Blick behalten. Ein Mensch kann den Mantel der Geschichte zwar niemals allein bändigen; aber hat er/sie einmal große Staatsmacht angehäuft, wird die Welt in aller Regel nicht besser.
Kohls "Mantel" war dann übrigens die Strickjacke, die er trug, als er mit Gorbatschow die deutsche Einheit aushandelte. Die Jacke und auch "Gorbis" Pullover waren lange Zeit ein Publikumsmagnet im Bonner Haus der Geschichte. Doch 2001 kam beides in die Abstellkammer. Als hätten die Museumsmacher geahnt, dass im 21. Jahrhundert mit Strickware kein Staat mehr zu machen ist.