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Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende - Rezensiert in der SZ von Cathrin Kahlweit
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Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind zahllose Beobachter prominent geworden, die versuchen, die Lage zu erklären. Carlo Masala ist der Glücksfall unter den deutschen Kriegsexperten - ein Auskenner, kein Schwafler. Man könnte sagen, der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München hat Konjunktur. Er fordert mehr Waffen für die Ukraine. Er hält den Deutschen ein schizophrenes Verhältnis zur Bundeswehr vor - und eine verfehlte Politik gegenüber Russland. Wunschdenken. Naivität. Die Zeitenwende, die vor einem Jahr vom deutschen Kanzler angekündigt wurde, sei, sagt er, aus purer Angst entstanden. Nun aber sei schon wieder Bequemlichkeit in Köpfen und Amtsstuben eingekehrt. Zum Schaden der Deutschen. Und der Ukraine.
Carlo Masala ist der Glücksfall unter den deutschen Kriegsexperten - ein Auskenner, kein Schwafler. Jetzt erscheint "Bedingt abwehrbereit", sein Buch zur Zeitenwende.
Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind zahllose Experten und Pseudo-Experten prominent geworden, die teils mehr, teils weniger kundig erklären, warum dieser Völkerrechtsbruch passiert ist, wie die Katastrophe hätte verhindert werden können - und wie man den Krieg jetzt mit gutem Willen und einem Zugehen auf Wladimir Putin schnell beenden könnte. Carlo Masala etwa ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, er wird seit dem 24. Februar 2022 als Sicherheitsexperte durch alle deutschen Talkshows gereicht und ist auf X (ehemals Twitter) sehr präsent. Man könnte sagen, Masala hat Konjunktur.
Und der Sohn einer Österreicherin und eines Italieners, selbstbewusst und intellektuell rauflustig, genießt das durchaus. Er fordert mehr Waffen für die Ukraine. Er hält den Deutschen ein schizophrenes Verhältnis zur Bundeswehr vor. Und eine verfehlte Politik gegenüber Russland. Wunschdenken. Naivität. Die Zeitenwende, die vor einem Jahr vom deutschen Kanzler angekündigt wurde, sei, sagt er, aus purer Angst entstanden. Nun aber sei schon wieder Bequemlichkeit in Köpfen und Amtsstuben eingekehrt. Zum Schaden der Deutschen. Und der Ukraine.
Mit Realitätsverweigerern, die Fakten ignorierten, will er sich nicht aufhalten
Diese Aussagen sind durchaus ein Problem - für Masala selbst. Denn wer sich in Deutschland mit einer eindeutigen Positionierung in die Debatte wirft, wer polarisiert, der muss mit Shitstorms, mit Morddrohungen rechnen. Masala gibt sich cool; mit Realitätsverweigerern, die Fakten ignorierten, wolle er sich nicht aufhalten, sagt er. Für das deutsche Publikum und die deutschen Leser ist er ein großer Gewinn. Denn Masala ist ein Auskenner, kein Schwafler.
Er hatte 2016, nach der Annexion der Krim und der Infiltration des Donbass durch russische Kräfte, mit "Die Weltunordnung" ein kluges Buch über globale Krisen und die Illusionen des Westens geschrieben, das 2023, überarbeitet und erweitert, auf viel Resonanz stieß. Nun hat er zwei weitere Bücher produziert. "Warum die Welt keinen Frieden findet" erscheint erst Anfang 2024 im österreichischen Brandstätter-Verlag, ein erstes aber dieser Tage bei C.H. Beck: "Bedingt abwehrbereit - Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende".
Es ist ein Gesprächsband, in dem der Historiker Sebastian Ullrich und der Politikwissenschaftler Matthias Hansl, Lektor und Programmleiter beim Beck-Verlag, den Politikwissenschaftler Masala durch drei Schwerpunkte führen: Warum ist Deutschland, wie es schon in der legendären Spiegel-Affäre 1962 hieß, "bedingt abwehrbereit?" Warum hat Deutschland gegenüber der Ukraine und Russland - auf sehr unterschiedliche Weise - versagt? Und welches sind die außenpolitischen Optionen der Deutschen in der Zukunft? All das ist eingebettet in das zentrale Thema der russischen Aggression, ihrer Ursachen und Folgen. Und selbst wer keine Interviewbände mag, weil sie zwar gut strukturieren, aber formal oft nerven, muss diesem attestieren: Masala argumentiert kenntnisreich und dicht, er erkennt eigene, frühere Denkfehler an und bietet einen hervorragenden Überblick über den Debattenstand zu diesem Krieg, weil er die Argumente seiner Kritiker mitdenkt.
Die Bundeswehr sieht er - Zeitenwende hin, Sondervermögen her - nach wie vor in einem erbärmlichen Zustand. Es gebe einen Konsens über mehr Ausrüstung, und auch da sei der Jetzt-Zustand beklagenswert, aber keinen Konsens über mehr Aufrüstung. Ein grundlegender Fehler ist das laut dem Sicherheits- und Militärexperten Masala, der daraus resultiere, dass die Deutschen allzu lange von ihrer Friedensdividende der vergangenen Jahrzehnte und der Wende profitiert, sich darauf ausgeruht hätten. Und anstelle der nötigen Abwehrbereitschaft lieber fast nur noch auf Auslandseinsätze und Terrorabwehr gesetzt hätten - wie viele andere europäische Nato-Mitglieder auch.
Im Namen einer aus dem Ruder gelaufenen Aufklärungskritik sei fatalerweise etwa der Universalismus aufgegeben worden. Also die Überzeugung, dass nicht eine wie auch immer geartete Stammeszugehörigkeit für die Solidarität unter Menschen entscheidend sei, sondern die Überzeugung, dass "wir Menschen trotz aller Unterschiede in Raum und Zeit im Grunde auf vielfältige Weise eins sind". Beeinflusst zwar von Ethnie und Herkunft, aber nicht bestimmt durch sie. Aus den richtigen Gründen - Mitgefühl für die Ausgegrenzten, den Drang, historisches Unrecht wiedergutzumachen, Empörung über die Misere der Unterdrückten -, aber mit falscher Konsequenz habe die Identitätspolitik der Woke-Bewegung Ethnie und Herkunft zu den alles entscheidenden Kategorien gemacht. Und dabei fatalerweise auch noch übersehen, wie sehr ein Denken dieser Art "Stammesdenken" sei und eigentlich doch die Sache des rechten Gegners.
Masala widmet sich auch ausführlich der Lieblingsfrage deutscher Russland-Experten, ob die Nato-Erweiterung letztlich eine Provokation gewesen sei
Das räche sich nun, sagt Masala. Verteidigung müsse ein gesamtstaatliches Konzept sein, das nicht nur die klassische Bündnisverteidigung, sondern auch Bedrohungen wie russische Desinformation, Angriffe auf kritische Infrastruktur, Cyberwar und ökonomischen Imperialismus mitdenke. Denn was die Abwehrfähigkeit der Bundeswehr angehe, sei Deutschland "unter den Blinden sehr blind".
Man muss diese Analyse nicht mögen, aber er untermauert sie gut, indem er zeigt, wo die Denkfehler und die Versäumnisse der Vergangenheit liegen. Da wäre der Kardinalfehler der deutschen Politik unter Angela Merkel, Nord Stream 2 und der Verkauf von wichtiger Infrastruktur wie strategisch wichtigen Gas-Speichern an Gazprom. Beides habe die Sanktionspolitik nach der Annexion der Krim unterlaufen und - wie so häufig - das falsche Signal an Moskau gesandt: "Wir haben", so Masala, "durch die Genehmigung dieses vermeintlich ,privatwirtschaftlichen Projekts' das Signal ausgesendet, dass ein Völkerrechtsbruch, die gewaltsame Verschiebung territorialer Grenzen, kein Hinderungsgrund ist, den Aggressor als normalen Partner in wirtschaftlichen Beziehungen zu behandeln." Rote Linien Russlands seien zu lange akzeptiert, eigene rote Linien gegenüber Putin nicht formuliert oder nicht umgesetzt worden.
Masala widmet sich auch ausführlich der Lieblingsfrage deutscher Russland-Experten, ob die Nato-Erweiterung letztlich eine Provokation gewesen sei, ob sich Moskau umzingelt, verraten gefühlt habe und ob es zu wenige diplomatische Bemühungen zur Einbindung Russlands in internationale (Sicherheits-)Strukturen gegeben habe. "Der Westen", EU, Nato, vor allem die Amerikaner - sie alle, sagt er, hätten viele Fehler gemacht. Der Versuch, in fremden Staaten Demokratien mithilfe des Militärs aufbauen zu wollen. Hochproblematische Interventionen im Irak, in Afghanistan, Syrien, Libyen. Die amerikanischen Pläne für einen Raketenschild in Osteuropa. Die Verwechslung von Werten und Interessen. Eine wachsende Abhängigkeit von China. Zu wenig "De-Risking".
Zugleich aber habe es eine Vielzahl von Angeboten an Putin gegeben, Formate, Zugeständnisse, Kompromisse, Einladungen, guten Willen. Ohne Erfolg. Denn: Russland habe eine "imperiale Agenda". Die Nato sei bis Kriegsbeginn ein vorgeschobenes Argument gewesen, dann folgten die "Denazifizierung" der Ukraine, historische Fehler der Bolschewiki, der Angriff auf die ukrainische Staatlichkeit. Deshalb: "Russland ist kein passives Opfer." Und Putin habe die Schwäche des Westens sehr bewusst genutzt.
Wie es weitergeht, weitergehen muss - auch da hat Masala keine guten Nachrichten für all jene, die finden, dass Deutschland sich aus diesem Krieg, aus allen internationalen Konflikten bestmöglich heraushalten sollte. Wie auch immer dieser brutale Krieg ende, in dem das Opfer, die Ukraine, immer noch zu wenig, zu spät, zu zögerlich unterstützt werde: Wladimir Putin sei dann wohl immer noch an der Macht. Dann gelte es, die imperialen, revisionistischen Ambitionen Moskaus einzudämmen, auf Abschreckung zu setzen, die Beziehungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. So wie in den Fünfzigern des 20. Jahrhunderts.
Die Deutschen, heißt es im letzten Kapitel unter der Überschrift "Woke und wehrhaft", hätten zu lange geglaubt, die Welt würde sie in Ruhe lassen und es reiche, wenn sie gutes Geld verdienten und nicht zu aggressiv aufträten. Das war ein Fehler, so Carlo Masala, der sich nicht wiederholen darf.
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