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Endlich Putin verstehen, dogmatische Israel-Debatten überwinden und Judith Hermanns Poesie auf den Grund gehen: Das sind die Bücher des Monats März.
Wie lässig das alles ist, wie cool - und doch mit einem Gespür für das Abgetakelte, Ausgeschlossene, Abgewrackte und Verrottende. Da kurvt "der Geliebte" in einem weißen Cabrio durch die Gegend, er ist offenbar wohlhabend, mit einem stabilen Freundschafts- und Beziehungsnetz, sie ist jung, unbedarft und mit einer kleinen Tochter, die er den Freunden gegenüber "pflegeleicht" nennt: "Sie würde Unaussprechliches für ihn tun, Unverzeihliches, alles." Joy Williams Geschichten sind archaische Konstellationen einer bedrohten Welt, auf eine gewisse Weise wirken sie alle zeitlos. Die Stärke ihrer Charaktere und die Sicherheit, mit der sie auf meist wenig erbauliche Kernsätze zusteuert, zeigen diese Prägung. Auf morbide Weise anziehend und von einer kühlen, schroffen Klarheit, sind diese "Stories" ein hervorragender Köder, um auf die außerordentliche Schriftstellerin aufmerksam zu machen.
Weiblichkeit war nie einfach, nicht einmal in Dänemark und schon gar nicht in den 1950er-Jahren. Mit dürren Worten und untergründigem Spott demontiert Tove Ditlevsen ihre Heldin Helga: Weder Herkunft noch Begabung oder ihr Äußeres stünden in irgendeinem Verhältnis zu Helgas überzogenen Hoffnungen. Dennoch hält das einfältige Hausmädchen unbeirrbar an ihren Vorstellungen fest, wartet erst auf den richtigen Mann, dann auf das Eheglück und verlagert sich schließlich, nach einer gewissen Ernüchterung, auf den Wunsch nach einem Regenschirm. "Böses Glück" heißt der klug komponierte Band, in dem man in fünfzehn Erzählungen die spezifische Ästhetik der Verknappung der 1917 geborenen der Schriftstellerin kennenlernt. Auf engstem Raum, oft nur in ein paar Zeilen, vermittelt Ditlevsen Milieu, Lebensideale, zerstobene Träume und versteht sich dabei glänzend auf die Schilderung von Aggressionen und deren zerstörerischer Kraft.
In diesem Monat feierteIsraelseine Staatsgründung vor 75 Jahren. Ein guter Anlass für den Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn, 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung von "Ewige Schuld?" eine Neuauflage seines Essays vorzulegen. Das Vorgehen ist ungewöhnlich, denn Wolffsohn hat seine Ergänzungen über das deutsch-jüdisch-israelische Verhältnis typografisch und farblich abgehoben vom Originaltext. Herausgekommen ist ein offenes Nachdenken über Sinn und Unsinn der Analysen aus dem Jahr 1988. Nicht ohne Grund ist der Text nun auch doppelt so lang wie zuvor, denn das Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis ist komplizierter geworden. Die Lektüre zeigt aber auch, was bei einer "Entkrampfung" jenseits von Lippenbekenntnissen helfen könnte.
Der Wunsch nach Erklärungen für den russischen Angriff auf die Ukraine ist auch nach mehr als einem Jahr Krieg noch immens. Der Osteuropa-Experte Serhii Plokhy wird nicht müde, diesen zu befriedigen. In schneller Folge hat er jüngst mehrere Bücher über die Geschichte der Ukraine vorgelegt, nun folgt mit "Der Angriff" ein weiteres luzides Sachbuch. Hier wird erneut kenntnisreich ein historischer und geopolitischer Bogen vom 15. Jahrhundert bis ins Heute geschlagen. Neu ist, dass sich Plokhy auch an einer möglichen Skizze einer Nachkriegsordnung versucht. Was er da von einer neuen "Ära der Großmachtrivalitäten" schreibt, klingt wenig hoffnungsvoll, ist aber dennoch unbedingt lesenswert.
Dipo Faloyins Buchtitel ist seine These: Afrika sei kein monolithischer Ort, sondern ein Kontinent mit 54 Nationen, zweitausend Sprachen und vielen tausend Völkern, die sich enorm voneinander unterscheiden. Die Afrikabilder in den Köpfen der Nachkommen des Kolonialismus zerlegt er so lange, bis die ganze Heuchelei und Herrenmenschlichkeit des guten Willens entlarvt ist. Das tut er nicht nur mit Geschichtswissen, sondern auch mit Humor und reichlich Gespür für literarische Ebenen. Faloyin beherrscht Lakonie wie nur wenige: Er verkneift sich Wut und Moral, arbeitet mit einer Ironie, die nie in den Zynismus rutscht. Das führt zu einem enormen Lesetempo. Allerbeste Voraussetzungen für 300 Seiten, an deren Ende selbst dem Letzten klar ist, warum eine Bronze aus dem Benin mehr ist als nur Beutegut mit kunstgeschichtlicher Bedeutung.
Während eine Frau sich die Beine rasiert, kann sie keine Systeme umstürzen. Das ist eine Erkenntnis, zu der die Schauspielerin Saralisa Volm recht früh in ihrem Buch findet. In der Zeit können Frauen auch kein Geld verdienen, keinem Hobby nachgehen und höchstwahrscheinlich keine wissenschaftliche Entdeckung machen. Das sei durchaus so "gewollt", schreibt Volm. Denn wer damit beschäftigt ist, vermeintliche Defizite zu bekämpfen, ist lenkbar. In ihrem autobiografischen Sachbuch "Das ewige Ungenügend" widmet sich Saralisa Volm dem Gefühl der weiblichen körperlichen Unzulänglichkeit. Es ist ist ein wütendes Klagelied geworden, eine umfassende Kritik an einer Gesellschaft, die von Frauen fordert, ewig jugendlich und begehrenswert zu sein. Natürlich kennt man die Argumentationsschleifen weiblicher Fremdbestimmung im Kapitalismus inzwischen gut. Nur nutzt das bislang wenig. Und womöglich ist es deshalb nicht falsch, ein bisschen Zorn zuzulegen und zu fragen: "Wie viel Hyaluron passt in das Gesicht einer intelligenten Frau?" Und: "Wie viel Botox kann ich meiner politischen Haltung zumuten?"
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