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Rezensiert in der SZ von Johanna Adorján
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Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.
»Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht?
Schonungslos und eindrücklich lässt Daniela Dröscher ihr kindliches Alter Ego die Jahre, in denen sich dieses »Kammerspiel namens Familie« abspielte, noch einmal durchleben. Ihr gelingt ein ebenso berührender wie kluger Roman über subtile Gewalt, aber auch über Verantwortung und Fürsorge. Vor allem aber ist dies ein tragik-komisches Buch über eine starke Frau, die nicht aufhört, für die Selbstbestimmung über ihr Leben zu kämpfen.
In Deutschland war Klassenzugehörigkeit lange kein Thema, nun wandert das literarische Schreiben darüber mit den Büchern von Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis aus Frankreich wieder ein. Daniela Dröschers Roman "Lügen über meine Mutter" spielt 1983 bis 1986 im 500-Einwohner-Dorf Obach im Hunsrück. In ihrer kleinbürgerlichen Welt bleibt die Mutter der Erzählerin immer ein Störfaktor: Zum einen, weil sie Hochdeutsch spricht, den anderen Grund verraten die starken ersten Sätze des Romans "Meine Mutter passt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie." Dröscher wählt zwei Perspektiven - die der Tochter im Kinder- und Jugendalter und die der Erzählerin heute, im Moment, in dem der Roman geschrieben wird. Eine Reflexionsebene, die diese Geschichte einer Kindheit in der Provinz reicher macht.
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Die Schriftstellerin Daniela Dröscher erzählt in ihrem neuen Buch von Klassenscham und dem Unglück einer Ehe. Wer die Achtzigerjahre erlebt hat, wird manches wiedererkennen.
Sie habe Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" atemlos und mit heißen Ohren gelesen, hat die deutsche Schriftstellerin Daniela Dröscher bekannt. Die Lektüre des französischen Soziologen, der in diesem Buch über die Arbeiterklasse nachdenkt, der er entstammt, schenkte ihr die Erkenntnis, dass die Scham, die sie immer für ihre Eltern, ihre kleinbürgerliche Herkunft empfunden hatte, keine individuelle war, sondern ihrem Milieu immanent ist. Sie hat seither ein Memoir veröffentlicht, das sich mit ihrer eigenen sozialen Herkunft befasste: "Zeige deine Klasse" (Hoffmann und Campe, 2020). Jetzt erscheint ihr neues Buch, das auch davon erzählt. Diesmal ist es ein Roman - mit dem Knallertitel "Lügen über meine Mutter".
Die Lektüre ist schon deshalb aufregend, weil in Deutschland lange niemand über Klassenzugehörigkeit schrieb. Es war keine Kategorie, die in der Literatur mitgedacht wurde, was natürlich auch daran liegt, dass das Milieu, in dem man sich für einen schreibenden Beruf entscheidet, eines ist, in dem man es sich üblicherweise leisten kann, nicht über sozialen Status nachzudenken, schon gar nicht den eigenen. Doch allmählich scheint dieses Thema von Frankreich aus zu uns zu kommen. Dort hat Annie Ernaux es angestoßen, die wiederum den Soziologen Didier Eribon beeinflusste, dem wiederum Édouard Louis dicht nachfolgt. Sie alle verehren den Soziologen Pierre Bourdieu. Man hat für ihre Literatur, die die eigene Herkunft ergründet und überhaupt die ganze Welt durch die Brille der Klassenzugehörigkeit sieht, einen eigenen Genre-Begriff erfunden, von dem nun auch hierzulande immer öfter die Rede ist: Autosoziobiografie.
Hier schreibt Christian Baron über seine Kindheit und Jugend, umgeben von Männern des Prekariats. Anke Stelling erzählt von den unsichtbaren Grenzen, die unterschiedliches Kapital in Freundschaften ziehen. Hendrik Bolz, der als Rapper Testo heißt, dichtet die brutale Geschichte seiner eigenen Sozialisierung in "Nullerjahre" nach. Ein Roman wie Christian Krachts "Faserland" würde heute wohl kaum noch ohne einen Klappentext erscheinen, der die sozial gehobene Schicht des finanziell sorglos im Land herumvagabundierenden Ich-Erzählers thematisiert. Zumindest in Rezensionen des Buches würde sie benannt werden. Zu den gängigen Identitätskategorien race und gender hat sich die der Klasse gesellt.
In der Provinz spielt Daniela Dröschers Kindheitsgeschichte, im Hunsrück, hier das Dorf Thalkleinich. Das des Romans heißt: Obach.
Daniela Dröschers "Lügen über meine Mutter" spielt 1983 bis 1986 im 500-Einwohner-Dorf Obach im Hunsrück. Man spricht dort in etwa den Dialekt, den man von Helmut Kohl kennt, damals für immer Kanzler. Die Ich-Erzählerin, zu verwechseln mit Daniela Dröscher, ist zu Beginn sechs Jahre alt und Einzelkind. Im Laufe des Buchs wird sie noch eine Schwester bekommen. Es wird sich auch eine alzheimerkranke Großmutter zum Haushalt dazugesellen sowie ein entfernt verwandtes Pflegekind. Der Vater hat einen Schreibtischberuf, der mit Maschinenbau zu tun hat, und wird in seiner Firma nie befördert. Die Mutter arbeitet als Fremdsprachenkorrespondentin, auch wenn dem Vater lieber wäre, sie wäre nicht berufstätig. Sie ist Schlesien-Deutsche und als solche des dörflichen Dialekts nicht mächtig. Für ihr Hochdeutsch schämt sich ihre Tochter fast genauso wie für ihren ausufernden Körper: Die Mutter ist dick. Das ist das zentrale Motiv des Buchs, das von der Scham der Tochter handelt, und der Schande, die diese Körperfülle aus Sicht des Vaters über die Familie bringt.
Ihr Gewicht ist nicht durchschnittlich, nicht normal, und deswegen, so argumentiert der Roman, für den Vater, einen Mann aus bäuerlichen Verhältnissen, einen Emporkömmling, inakzeptabel. Er will nicht auffallen, schon gar nicht durch Makel, und macht - Mann seiner Zeit, Patriarch, Herr im Haus - den Körper seiner Ehefrau zu seinem Problem. Behandelt sie, als wäre sie sein Besitz. Jeden Morgen muss sie sich unter seiner Aufsicht wiegen, ist ständig seinem Tadel über ihren Körper ausgesetzt. Und als Frau ihrer Zeit und Verhältnisse lässt sie es sich gefallen. Zwar nicht für immer, um den Ausgang dieser Ehe zu spoilern, so wie Daniela Dröscher es bereits im ersten Drittel tut. Aber die leidvollen Jahre lang, von denen der Roman erzählt.
Fragen der erwachsenen Erzählerin an die Mutter werden sogar beantwortet
Immer wieder macht die Mutter Diäten - Kohlsuppe, FdH - ohne Erfolg. Irgendwann ertappt ihre Tochter sie bei einem nächtlichen Süßigkeiten-Fressgelage. Spätestens hier offenbart sich, dass sich die Tochter den kritischen Blick ihres Vaters zu eigen gemacht hat. Sie empfindet Verachtung für die vermeintliche Charakterschwäche ihrer Mutter. Ein Familienausflug ins Freibad wird zum Albtraum. In die Blicke der anderen Badegäste interpretiert die Tochter Häme, und als die Mutter schließlich ins Wasser springt, in Kleidern, um ihre vor lauter peinlichem Berührtsein extra lange tauchende Tochter zu retten, ist das Unglück komplett.
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