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Die dänische Autorin Olga Ravn steigt in ihrem Roman „Meine Arbeit“ in die Abgründe des Mutterseins - und findet dort sogar etwas Freiheit.
Als Mary Shelley 1818 ihren Roman „Frankenstein“ mit 20 Jahren veröffentlichte, hatte sie bereits drei Kinder geboren. Eins starb unmittelbar nach der Geburt, die beiden anderen später. 1815 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Träumte, dass mein Baby wieder zum Leben erwacht ist - dass ihm nur kalt gewesen war & dass wir es am Kamin warm rieben & es lebte.“ In „Frankenstein“ lässt Mary Shelley ihren Doktor das Monster aus Teilen toter Menschen zusammensetzen und erweckt dieses zum Leben. Man kann das Buch durchaus als Geschichte über Mutterschaft lesen, so wie Olga Ravn in ihrem neuen Roman. Man könnte Müttern, findet sie, statt ihnen die Mär vom überbordenden Glück im Moment der Geburt zu erzählen, lieber mal „Frankenstein“ zu lesen geben.
Diesem Vorschlag liegen ja allerhand Fragen zugrunde. Um ein paar zu nennen: Warum klingt „Frankenstein“ spontan eher nicht nach einem Roman für Mütter? Ist Mary Shelley eine Autorin, die auch Kinder zur Welt gebracht hat, oder eine Mutter, die auch schreibt? Warum nimmt man sofort an, auch Olga Ravn sei Mutter? Was sagt das über die Erwartung an Mütter? Und an Autorinnen?
“Meine Arbeit“ heißt der neue Roman der dänischen Autorin, der gerade in der Übersetzung von Alexander Sitzmann und Clara Sondermann beim März-Verlag erschienen ist. Olga Ravn ist nach München gekommen, um den Roman vorzustellen, den sie schon 2020 in Dänemark veröffentlicht hat. 2018 erschien „Die Angestellten“, damit war sie für den International Booker Prize nominiert. Nun sitzt sie für ein paar Antworten in einem italienischen Café in Schwabing. Sie ist 37, hat springende rote Locken und lacht schallend laut, oft.
Das Buch ist ein wilder Genremix, die Autorin hat große Erkundungslust
Wer beim Begriff „Arbeit“ jetzt an Büros und Gehaltsabrechnungen denkt, liegt nicht ganz richtig. Denn „Arbeit“ ist in dem Roman nicht nur der Beruf, sondern auch die unsichtbare Arbeit des Sichkümmerns, des Elternseins. Eine Ich-Erzählerin schreibt von einer Autorin namens Anna, die nach der Geburt des ersten Kindes in eine postnatale Depression fällt, weil die Arbeit als Mutter mit der Arbeit als Autorin unvereinbar zu sein scheint, zwei sich gegenseitig kannibalisierende Prinzipien. Der Roman ist der Versuch einer sich verlierenden Frau, sich neu zusammenzufügen - als Mutter und als Schriftstellerin. Auch das ist Arbeit.
Olga Ravn steigt dafür zunächst tief hinab ins Dunkel der Depression. Für Protagonistin Anna ist ein Tag, an dem sie nicht sterben will, ein guter Tag. Für ihren namenlosen Sohn kann sie nichts fühlen, obwohl sie immer zärtlich zu ihm spricht. „Trotzdem gibt es Tage, vor allem Sonntag, an denen ich die Tür zu seinem Zimmer schließen und mir die Ohren zuhalten will“, schreibt sie, „und Tage, an denen ich mich an ihm rächen will, ihn schütteln und schlagen will, um ihn zum Schweigen zu bringen.“ Dann weiter: „Wir sprechen immer öfter über ein zweites Kind“ - eine verstörende Gleichzeitigkeit von Mutterliebe und Mutterhass.
Der Roman ist ein eigenwilliger Genremix aus autofiktionaler Prosa, Lyrik, theatralen Dialogen, Gesprächen in einer psychiatrischen Klinik, Briefen, Tagebucheinträgen, Gebrauchsanleitungen zum Thema Geburt und Stillen und biografischen Passagen über Schriftstellerinnen wie Mary Shelley. 13 Kapitel sind mit „Anfang“, überschrieben, darauf folgen 28 „Fortsetzungen“ und eine Menge „Schlüsse“. An Linearität hat Ravn kein großes Interesse. „Am liebsten würde ich den Lesern alle Kapitel gleichzeitig entgegenwerfen“, sagt sie und macht eine Armbewegung, als schleudere sie einen Blätterstapel in die Luft.
So liest sich „Meine Arbeit“ auch, als betrete man einen Raum, in dem verschiedene Exponate ausgestellt sind, man wandert vom einen zum anderen, Reihenfolge egal. Das erfordert Geduld, manche Texte sind nicht mehr als müde Tagebucheinträge, die solche hätten bleiben sollen. Doch jedes Kapitel ist wieder neu, man kann überspringen, zurückspringen, bis sich aus den Einzelteilen nach und nach ein zerbrechliches Kunstwerk zusammensetzt.
Sie „zerreiße“ den Roman als Reaktion auf eine Gesellschaft, die die Mütter zerreiße, schrieb der Guardian über Olga Ravn. Dabei stimmt das nicht, sie zerstört nichts. Vielmehr weitet sie die Idee des Erzählens aus, folgt einer stilistischen Erkundungslust. „Ich bin nicht daran interessiert, perfekt geschliffene Diamanten-Literatur zu produzieren“, sagt sie, „lieber eine Handvoll Erde, in der man wühlen kann, aus der etwas wachsen kann.“
Ohne Suppe gibt es keine Revolution, sagt sie, jemand muss sich immer kümmern
Diesen Satz darf man nicht mit Anspruchslosigkeit verwechseln, er führt vielmehr wieder ins Thema Arbeit und zur Frage, was „gute Kunst“ ausmacht. „Früher schrieb ich bis tief in die Nacht hinein, gequält weintrinkend, um am nächsten Tag zu erzählen, dass ich nur zehn Zeilen geschafft hatte“, sagt sie. Nach der Geburt ihres ersten Kindes dann: Aufstehen, Betreuung und dann in drei Stunden zwischen Wäsche und Kochen irgendetwas schreiben.
Es sei „undenkbar, Mutter zu werden, wenn man auch Künstler werden will“, überlegt Anna im Roman. Weil die romantische Vorstellung an der Kunst klebt, dass man alles für sie „opfern“ und sich der Welt entziehen müsse. Wer sich um ein Kind kümmern muss, kann man demnach nicht schreiben. „Aber ohne Suppe gibt es keine Revolution“, sagt Olga Ravn lachend, und ohne Suppe auch keine Kunst.
Warum werten wir eine Arbeit höher, begreifen sie als edler als die andere? Blöd ist zudem, dass auch an Mutterschaft oft noch die romantische Vorstellung klebt, eine Frau müsse ihr alles unterordnen. „Schreiben bedeutet, die Familie zu verraten“, heißt es im Buch. Daher komme auch die Annahme, dass Olga Ravn selbst eine Mutter sei, meint sie. „Eine Mutter hat kein Recht auf Fiktion“, folgert Ravn im Roman. Eine doppelte Sackgasse also, in der sich die schreibende Mutter befindet.
“Ich wollte nicht wie eine wütende Feministin die Männer anklagen“
Unter Anstrengung erzwingt Anna irgendwann zwei Stunden Schreibzeit am Tag, ihr Freund Aksel hütet das brüllende Kind. Sie hat ein Stipendium und arbeitet in der Bibliothek eines nicht näher definierten „großen Mannes“, dessen erdrückende Präsenz im Raum Produktivität zusätzlich hemmt. Olga Ravn glaubt nicht an die Idee des einsamen Genies. Nicht mehr. „Ich hatte nach der Geburt keine Zeit mehr, eine gequälte Künstlerin zu sein. Ich musste einfach loslegen“, sagt sie. Es ging. Dass sich ziemlich viel aus „Meine Arbeit“ so oder so ähnlich in ihrem Leben zugetragen hat, daraus macht sie keinen Hehl.
Dem aktuellen Schwung der autofiktionalen Literatur über Elternschaft zwischen Burn-out und Depression ist „Meine Arbeit“ trotzdem nicht wirklich zuzuordnen. Denn anders als beispielsweise Mareike Fallwickl, die in „Die Wut, die bleibt“ ein moralisierendes „Das habt ihr jetzt davon“-Szenario entwickelt, in dem sich die frustrierte Mutter vom Balkon stürzt, und anders als die Systemkritik „Mama kann nicht mehr“ von Julia Knörnschild, kommt Olga Ravn ohne Bitterkeit aus, ohne Wut. Der Roman hat nichts Moralisierendes.
“Ich wollte nicht wie eine wütende Feministin die Männer anklagen: Warum lässt du mich den Abwasch machen? Sondern stattdessen fragen: Warum ist es so verdammt schwer, den Abwasch zu machen?“ Darin liegt natürlich auch Systemkritik und die Entlarvung einer sehr billigen und cleveren Idee: „Carearbeit ist Arbeit. Aber den Frauen wird eingeredet, sie sollen das gern machen und umsonst. Aus Liebe. Und wenn sie es nicht gern machen, sollen ein schlechtes Gewissen haben.“
“Meine Arbeit“ erzählt von diesem schlechten Gewissen. Von Zweifel, Scham, spontaner Mordlust. „Geburten sollten ab heute verboten werden“, zitiert sie die surrealistische Künstlerin Unica Zürn an einer Stelle unkommentiert. „Wenn ich etwas zu sagen hätte, dann gäbe es ab heute keine Menschen mehr. Nur noch Katzen und natürlich mich.“
Doch indem Anna sich in ihrem Schreiben buchstäblich in alle Richtungen reckt, erfasst sie mehr und mehr die Erkenntnis, dass Gefühle etwas sehr Flüchtiges sind. „Gerade noch willst du jemanden umbringen, im nächsten Moment willst du das nicht“, sagt Olga Ravn. In dieser Erkenntnis liegt eine Freiheit, die sie versöhnlich stimmt. „Tragische Frauen gibt es schon viel zu viele“, sagt sie. Der Roman endet passend ganz ohne Verklärung, aber auch ohne Tragödie. Anna ist wieder schwanger.
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